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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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heulte der Bursche noch immer: » Mama! Ja ne chatschu! Ja ne chatschu! Mama! Ja chatschu domoi! « und andere Worte, die ich nicht alle verstehen konnte. Ich zog die Knie an und umklammerte sie mit den Armen. Nii, in der Hocke, blickte mich unverwandt an. Ich wollte mir die Ohren zuhalten, aber sein bleierner Blick ließ mich erstarren. Die Schreie des jungen Burschen durchbohrten mir das Gehirn, wie ein Messer, das in einem dicken, klebrigen Morast voll von Würmern und schmutzigem Leben wühlte. Und ich, fragte ich mich, würde ich auch nach meiner Mutter schreien, wenn der Augenblick gekommen war? Trotz allem, der Gedanke an diese Frau erfüllte mich mit Hass und Abscheu. Jahrelang hatte ich sie nicht mehr gesehen, und ich wollte sie nie wiedersehen; die Vorstellung, ihren Namen zu rufen, sie um Hilfe anzuflehen, erschien mir unvorstellbar. Nichtsdestoweniger war zu vermuten, dass es hinter dieser Mutter eine andere gab, die Mutter des Kindes, das ich gewesen war, bevor etwas unwiderruflich in mir zerbrochen war.Auch ich würde mich gewiss krümmen und nach jener Mutter heulen. Und wenn nicht nach ihr, dann nach ihrem Bauch, diesem Hort vor dem Licht, dem ungesunden, schmutzigen, kranken Tageslicht. »Sie hätten nicht herkommen sollen«, sagte Niiunvermittelt. »Ist nutzlos. Und gefährlich. Gibt oft Unfälle.« Er blickte mich mit offener Feindseligkeit an. Dabei hielt er seine Maschinenpistole im Anschlag, den Finger am Abzug. Ich blickte Iwan an: Er hielt seine Waffe genauso, nur auf Niiund die beiden Soldaten gerichtet. Niifolgte meinem Blick, betrachtete Iwans Waffe, dessen Gesicht und spuckte auf den Boden: »Besser, wenn Sie jetzt zurückgehen.« Ein trockener Knall ließ mich zusammenfahren, eine kleine Explosion, vermutlich eine Granate. Die Schreie hörten einen Augenblick auf, dann begannen sie abermals, eintönig, durchdringend. Ich stand auf: »Ja. Ich muss sowieso wieder ins Zentrum. Es ist spät.« Iwan trat einen Schritt beiseite, um uns vorbeizulassen, und folgte uns auf dem Fuße, ohne die beiden Soldaten aus den Augen zu lassen, bis wir auf dem Flur waren. Wortlos gingen wir durch denselben Graben zurück; in dem Haus, in dem die Kompanie logierte, verließ mich Nii, ohne zu grüßen. Es schneite nicht mehr, der Himmel klarte auf, und ich sah den Mond, weiß und aufgebläht an einem Himmel, der sich rasch verdunkelte. »Können wir bei Nacht zurück?«, fragte ich Iwan. »Ja. Geht sogar schneller. Anderthalb Stunden.« Vermutlich konnten wir Abkürzungen nehmen. Ich fühlte mich leer, alt, fehl am Platz. Im Grunde hatte der Oberfeldwebel Recht gehabt.
    Auf dem Rückweg überfiel mich die Erinnerung an meine Mutter mit großer Heftigkeit und randalierte in meinem Kopf wie ein betrunkenes Weib. Seit Langem hatte ich nicht mehr an sie gedacht. Als ich auf der Krim mit Partenau über sie gesprochen hatte, hatte ich mich an die nichtssagenden Fakten gehalten. Diese Gedanken hier waren von ganz andererArt, sie waren bitter, hasserfüllt, auch etwas beschämend. Wann hatte das begonnen? Bei meiner Geburt? Hatte ich ihr möglicherweise niemals die Tatsache meiner Geburt verziehen, diese ungeheure Anmaßung zu glauben, sie habe das Recht, mich in die Welt zu setzen? Seltsamerweise hatte ich eine lebensgefährliche Allergie gegen ihre Muttermilch entwickelt; wie sie mir später gedankenlos erzählte, durfte ich nur aus der Flasche trinken und musste verbittert mit ansehen, wie meine Zwillingsschwester die Brust bekam. Trotzdem muss ich sie in meiner frühen Kindheit geliebt haben, wie alle Kinder ihre Mutter lieben. Ich erinnere mich noch an den zarten weiblichen Duft ihres Badezimmers, der mich in besinnungsloses Entzücken versetzte, wie eine Rückkehr in den verlorenen Bauch. Wenn ich darüber nachdenke, muss es diese Mischung aus dem Wasserdampf des Bades, Parfüms, Seifen, vielleicht auch dem Geruch ihres Geschlechts und sogar ihrer Scheiße gewesen sein; selbst wenn sie mich nicht mit in die Badewanne ließ, wurde ich nicht müde, auf der Kloschüssel zu sitzen, selig, in ihrer Nähe zu sein. Dann hatte sich alles verändert. Aber wann war das genau, und warum? Ich hatte ihr nicht sofort die Schuld am Verschwinden meines Vaters gegeben: Der Gedanke kam mir erst später, als sie sich diesem Moreau prostituierte. Doch schon vor dieser Begegnung mit ihm begann sie sich in einer Weise zu verhalten, die mich empörte. War es die Abreise meines Vaters? Schwer zu sagen, aber der Schmerz schien sie

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