Die Wohlgesinnten
körperliche Beklemmung, wie ein Jucken an blinden Körperstellen – Nacken, Rücken, Hintern –, wo Kratzen nichts nützt. Um mich abzulenken, betrachtete ich die Gebäude auf der anderen Straßenseite. Mehrere Fassaden waren eingestürzt und gaben das Innere der Wohnungen preis, eine Reihe von Dioramen des Alltagslebens, mit Schnee bestäubt, fremdartig: im dritten Stock ein an der Wand aufgehängtes Fahrrad, im vierten eine Blumentapete, ein heiler Spiegel und eine gerahmte blaustichige Reproduktion der hochmütigen Unbekannten von Kramskoi, im fünften ein grünes Sofa mit einer Leiche darauf, deren Frauenhand ins Leere hing. Eine Granate, die in das Dach eines Gebäudes einschlug, zerstörte diese trügerische Friedlichkeit: Ich duckte mich und begriff, warum Thomas auf dem Helm bestanden hatte: Ein Schuttregen, Bruchstücke von Dachpfannen und Ziegelsteinen, ging auf mich nieder. Als ich den Kopf wieder hob, sah ich, dass Iwan sich noch nicht einmal gebückt, sondern nur die Hand schützend vor die Augen gehalten hatte. »Komm«, sagte er, »ist nichts.« Ich überschlug die Richtung, in der Fluss und Front lagen, und begriff, dass die Gebäude, an denen wir entlanggingen, uns teilweise schützten: Um in dieser Straße einzuschlagen, mussten die Granaten über die Dächer hinwegfliegen, die Wahrscheinlichkeit war also gering, dass sie am Boden krepierten. Doch dieser Gedanke beruhigte mich nur wenig. Die Straße führte zu den Ruinen eines Depots und Betriebshofs der Eisenbahn; vor mir trabte Iwan quer überden langen Platz und betrat einen der Schuppen durch eine Eisentür, die aufgerollt war wie der Deckel einer Sardinenbüchse. Ich zögerte, dann folgte ich ihm. Drinnen schlängelte ich mich durch Berge längst geplünderter Kisten, ging um einen Teil des eingestürzten Daches herum und gelangte durch ein in die Ziegelwand gebrochenes Loch, von dem zahlreiche Fußspuren im Schnee fortführten, wieder ins Freie. Der Weg folgte den Mauern des Depots; auf der Böschung reihten sich die Güterzüge, die ich am Vortag von der Brücke aus gesehen hatte, die Wände von Geschoss- und Splittereinschlägen übersät und mit Graffiti auf Russisch und Deutsch vollgekritzelt, komischen und obszönen. Eine ausgezeichnete farbige Karikatur zeigte Stalin und Hitler, wie sie es miteinander trieben, während Roosevelt und Churchill danebenstanden und sich einen runterholten: Doch ich konnte nicht feststellen, wer sie gemacht hatte, einer der Unseren oder der anderen, daher war sie ohne großen Nutzen für meinen Bericht. Ein Stück weiter kam uns eine Streife entgegen und ging wort- und grußlos an uns vorbei. Die Gesichter der Männer waren eingefallen, gelb, bärtig, sie hatten die Fäuste tief in den Taschen vergraben und die Stiefel mit Lumpen umwickelt oder in unförmige strohgeflochtene Galoschen gesteckt, die äußerst hinderlich sein mussten. Hinter uns lösten sie sich im Schneetreiben auf. Hin und wieder zeichnete sich in einem Güterwagen oder auf den Gleisen ein gefrorener Leichnam unbestimmbarer Nationalität ab. Wir hörten keine Detonationen mehr, alles schien ruhig zu sein. Dann begann es vor uns von Neuem: Detonationen, Schüsse oder Maschinengewehrfeuer. Wir hatten die letzten Schuppen passiert und durchquerten ein weiteres Wohngebiet: Vor uns öffnete sich ein verschneites Gelände, das linker Hand von einem mächtigen Hügel beherrscht wurde, rund wie ein kleiner Vulkan, seine Kuppe spie in Abständen schwarzen Detonationsqualm aus. Iwan wies aufihn und sagte: » Mamajew Kurgan «, bevor er nach links abbog und ein Gebäude betrat.
Einige Soldaten saßen in leeren Räumen, an die Wände gelehnt, die Knie an die Brust gezogen. Sie betrachteten uns mit leeren Augen. Iwan führte mich durch mehrere Gebäude, über Innenhöfe und kleine Gassen; da wir uns offenbar wieder etwas von der Hauptkampflinie entfernt hatten, setzte er den Weg auf einer Straße fort. Hier waren die Gebäude niedrig, höchstens zwei Stockwerke hoch, vielleicht Arbeiterunterkünfte; dann zerschossene, eingestürzte, verwüstete Häuser, trotzdem immer noch kenntlicher als die, die ich am Stadtrand gesehen hatte. Von Zeit zu Zeit ließ eine Bewegung, ein Geräusch erkennen, dass einige der Ruinen noch bewohnt waren. Immer noch pfiff der Wind; jetzt hörte ich den Lärm der Detonationen auf dem Mamai-Hügel, der rechts von uns, hinter den Häusern, in die Höhe ragte. Iwan zog mich in kleine Gärten, die sich unter dem Schnee an den
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