Die Wohlgesinnten
manchmal rasend gemacht zu haben. Eines Abends war sie in Kiel ganz allein in eine Hafenkneipe gegangen und hatte sich, von Ausländern, Hafenarbeitern, Seeleuten umringt, betrunken. Möglicherweise hatte sie sich sogar auf einen Tisch gesetzt, ihren Rock hochgezogen und ihr Geschlecht entblößt. Wie dem auch sei, die Situation eskalierte auf skandalöse Weise, die feine Dame wurde hinausgeworfen und landete in einer Pfütze. Ein Polizist brachte sie nach Hause, sie war durchnässt,halb nackt, mit beschmutztem Kleid; ich glaubte, vor Scham sterben zu müssen. Obwohl ich noch so klein war – ich mochte zehn Jahre alt gewesen sein –, wollte ich sie schlagen, und sie wäre noch nicht einmal in der Lage gewesen, sich zu wehren, aber meine Schwester griff ein: »Hab Mitleid mit ihr. Sie ist traurig. Sie verdient deinen Zorn nicht.« Ich brauchte lange, um mich zu beruhigen. Doch selbst damals dürfte ich sie noch nicht gehasst haben, ich war nur gedemütigt. Der Hass muss erst später gekommen sein, als sie ihren Mann vergaß und ihre Kinder opferte, um sich einem Fremden an den Hals zu werfen. Das geschah natürlich nicht von heute auf morgen, es vollzog sich in mehreren Etappen. Moreau war, wie gesagt, kein schlechter Kerl und bemühte sich anfangs sehr darum, von uns akzeptiert zu werden; aber er war beschränkt, gefangen in seinen primitiven bürgerlich-liberalen Vorstellungen, Sklave seines Verlangens nach meiner Mutter, die sich rasch als der Mann in der Beziehung erwies; so machte er sich freiwillig zum Komplizen ihrer Fehler. Es kam die große Katastrophe, nach der ich ins Internat geschickt wurde; es gab auch alltäglichere Konflikte, etwa den, der zum Ausbruch kam, als ich die Schule beendete. Ich bereitete mich aufs Abi vor und musste mich entscheiden, wie es weitergehen sollte; ich wollte Philosophie und Literatur studieren, aber meine Mutter lehnte das strikt ab: »Du brauchst einen Brotberuf. Glaubst du, wir können immer von der Großzügigkeit anderer leben? Danach kannst du machen, was du willst.« Und Moreau spottete: »Was denn? Zehn Jahre lang Schulmeister in irgendeinem öden Nest? Dreigroschenschreiberling, Hungerleider? Du bist nicht Rousseau, mein Junge, hör auf zu träumen.« Himmel, wie ich die beiden hasste. »Du musst einen Beruf ergreifen«, sagte Moreau. »Wenn du in deiner Freizeit dann noch Gedichte schreiben willst, ist das deine Sache. Aber dann verdienst du wenigstens genügend, um deine Familiezu ernähren.« So ging das länger als eine Woche; wegzugehen hätte nichts genützt, sie hätten mich wieder eingefangen, wie damals, als ich versucht hatte auszureißen. Ich musste nachgeben. Gemeinsam beschlossen sie, mich auf die École libre des sciences politiques zu schicken, die mir Zugang zu staatlichen Organen wie dem Staatsrat, dem Rechnungshof oder der höchsten Finanzbehörde gewähren würde. Ich würde ein Staatsbeamter, ein Mandarin sein: ein Angehöriger der Elite , wie sie hofften. »Das wird schwierig«, erklärte Moreau, »du wirst tüchtig pauken müssen«; aber er habe Beziehungen in Paris, er werde mir helfen. Doch es lief nicht ganz so, wie er sich das vorgestellt hatte: Die Mandarine in Frankreich dienten jetzt meinem Land; und ich war hier gestrandet, in den eisig kalten Ruinen von Stalingrad, vemutlich, um hier den Tod zu finden. Meine Schwester hatte mehr Glück gehabt: Sie war ein Mädchen, was sie machte, war weniger wichtig; da ging es nur um den letzten Schliff, ihrem künftigen Gatten zum Wohlgefallen. Man ließ sie auf ihren eigenen Wunsch in Zürich Psychologie studieren, bei einem gewissen Dr. Carl Gustav Jung, der es inzwischen zu erheblichem Ruhm gebracht hat.
Da war das Entsetzlichste bereits geschehen. Um das Frühjahr 1929 herum – ich besuchte noch das Internat – erhielt ich einen Brief von meiner Mutter. Darin kündigte sie mir an, dass sie, da sie keine Nachricht von meinem Vater habe und wiederholte Anfragen bei mehreren deutschen Konsulaten ergebnislos verlaufen seien, den Antrag gestellt habe, meinen Vater offiziell für tot erklären zu lassen. Sieben Jahre seien seit seinem Verschwinden vergangen, das Gericht habe den gewünschten Spruch gefällt; jetzt werde sie Moreau heiraten, einen guten und großzügigen Mann, der wie ein Vater zu uns sei. Dieser abscheuliche Brief versetzte mich in maßlose Wut. Ich antwortete ihr mit einem Brief voll wüster Beschimpfungen: Mein Vater sei nicht tot und der heißeWunsch nach seinem Tod, der sie beide
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