Die Wohlgesinnten
Raketen auf London abgeschossen, nicht die von Speer und Kammler, sondern die kleinen der Luftwaffe,die Goebbels V1, V für Vergeltungswaffen, getauft hatte; sie hatten wenig Auswirkungen auf die Moral der Engländer und noch weniger auf unsere eigene Zivilbevölkerung, die viel zu niedergeschlagen war von den Bombenangriffen auf Mitteldeutschland und den katastrophalen Nachrichten von der Front: die gelungene Landung in der Normandie, die Übergabe Cherbourgs, der Verlust von Monte Cassino und das Debakel von Sewastopol Ende Mai. Die Wehrmacht bewahrte noch Stillschweigen über den verheerenden sowjetischen Durchbruch in Weißrussland, nur wenige wussten davon, obwohl schon Gerüchte in Umlauf waren, auch wenn diese weit hinter der Wahrheit zurückblieben, doch ich wusste alles, besonders dass die Russen das Meer innerhalb von drei Wochen erreicht hatten, dass die Heeresgruppe Nord an der Ostsee isoliert war und die Heeresgruppe Mitte nicht mehr existierte. In dieser allgemeinen Niedergeschlagenheit empfing mich Grothmann, Brandts Adjutant, ausgesprochen kühl, fast verächtlich, als wollte er mich persönlich für die kläglichen Ergebnisse des ungarischen Einsatzes verantwortlich machen, und ich ließ ihn reden, ich war zu demoralisiert, um zu protestieren. Brandt selbst befand sich mit dem Reichsführer in Rastenburg. Meine Kameraden wirkten verstört, niemand schien so recht zu wissen, wohin er gehen oder was er machen sollte. Speer hatte seit seiner Erkrankung nie wieder versucht, sich mit mir in Verbindung zu setzen, ich bekam aber immer noch Kopien seiner wütenden Briefe an den Reichsführer: Seit Jahresbeginn hatte die Gestapo dreihunderttausend Personen wegen verschiedener Vergehen verhaftet, darunter zweihunderttausend Fremdarbeiter, die den Lagerbestand auffüllen sollten; Speer warf Himmler vor, unter seinen Arbeitskräften zu wildern, und drohte, es dem Führer zu berichten. Unsere anderen Verhandlungspartner trugen weitere Klagen und Kritik vor, vor allem der Jägerstab, der sich vorsätzlich benachteiligt wähnte.Auf unsere eigenen Briefe oder Anfragen erhielten wir nur nichtssagende Antworten. Aber das war mir egal, ich überflog diese Korrespondenz, ohne auch nur die Hälfte zu verstehen. Unter dem Stapel Post, der mich erwartete, war auch ein Brief von Standartenführer Baumann: Hastig riss ich den Umschlag auf und zog neben einem harmlosen Grußwort eine Fotografie hervor. Es war der Abzug von einem alten Negativ, körnig, etwas unscharf, mit harten Kontrasten: Männer auf Pferden im Schnee, in bunt zusammengewürfelten Uniformen, mit Stahlhelmen, Schirm- und Karakulmützen; Baumann hatte über einem dieser Männer mit Tinte ein Kreuz gemacht, der einen langen Mantel mit Offiziersschulterstücken trug, sein winziges ovales Gesicht war undeutlich, nicht zu erkennen. Auf der Rückseite hatte Baumann notiert: KURLAND, BEI WOLMAR, 1919. Seine höflichen Begleitworte gaben keinen weiteren Aufschluss.
Ich hatte Glück gehabt: Meine Wohnung hatte ein weiteres Mal alles überstanden. Allerdings fehlten wieder sämtliche Scheiben, meine Nachbarin hatte die Fenster, so gut es ging, mit Brettern und Planen verschlossen; im Wohnzimmer waren die Glastüren des Buffets zersprungen, die Decke wies Risse auf, die Deckenleuchte war heruntergefallen; in meinem Schlafzimmer herrschte ein betäubender Brandgeruch, weil die Nachbarwohnung Feuer gefangen hatte, als eine Brandbombe durch ein Fenster eingedrungen war. Aber meine Wohnung war bewohnbar und sogar sauber: Die Nachbarin Frau Zempke hatte alles geputzt und die Wände weißen lassen, um die Rauchspuren zu verdecken, die Petroleumlampen standen aufgereiht auf dem Buffet, gesäubert und blank geputzt, das Badezimmer war mit einem Fass und mehreren Kanistern Wasser vollgestellt. Ich öffnete die Balkontür und alle Fenster, die nicht zugenagelt waren, um das Abendlicht hereinzulassen, ging dann zu Frau Zempke hinunter, um ihr zu danken, und gab ihr etwas Geld für ihreMühe – ungarische Würste wären ihr sicherlich lieber gewesen, aber ich hatte wieder nicht einmal daran gedacht – und einige Lebensmittelmarken, damit sie für mich kochen konnte: Die würden ihr wenig nützen, erklärte sie mir, die Geschäfte und Läden dafür existierten nicht mehr, aber wenn ich ihr noch ein wenig Geld gäbe, würde sie schon zurechtkommen. Ich ging wieder in meine Wohnung hinauf. Dort zog ich einen Sessel vor die offene Balkontür, es war ein schöner stiller
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