Die Wohlgesinnten
Sommerabend, viel war nicht mehr übrig, von der Hälfte der Gebäude in der Umgebung existierten nur noch leere, stumme Fassaden oder Trümmerhaufen; lange betrachtete ich diese endzeitliche Landschaft, im Park vor meinem Mietshaus blieb es still, offenbar waren alle Kinder aufs Land verschickt worden. Ich legte noch nicht einmal Musik auf, damit ich die Ruhe und den Frieden besser genießen konnte. Frau Zempke brachte mir Wurst, Brot und etwas Suppe, sie entschuldigte sich, dass es zu mehr nicht gereicht habe, aber ich war damit zufrieden, ich hatte mir Bier aus der Kantine der Geheimen Staatspolizei mitgenommen, jetzt aß und trank ich genüsslich und hatte die merkwürdige Illusion, auf einer Insel zu treiben, einem friedlichen Hafen inmitten der Katastrophe. Nachdem ich abgeräumt hatte, goss ich mir ein großes Glas schlechten Schnaps ein, zündete eine Zigarette an, setzte mich wieder und fasste in meine Tasche, in der ich Baumanns Umschlag spürte. Aber ich zog ihn nicht gleich heraus, ich betrachtete das Spiel der Abendsonne auf den Ruinen, diese langen schrägen Strahlen, die den Kalkstein der Fassaden gelb färbten und durch die gähnenden Fensterhöhlen das Chaos der verbrannten Balken und eingestürzten Wände beleuchteten. In einigen Wohnungen waren noch die Spuren des Lebens zu erkennen, das sie erfüllt hatte: eine gerahmte Fotografie oder Reproduktion an der Wand, zerrissene Tapeten, ein halb in der Luft hängender Tisch mit rot-weiß gewürfeltem Tischtuch, eine Säule vonKachelöfen, in jedem Stockwerk in die Wand eingelassen, während die Dielen verschwunden waren. Da und dort lebten die Menschen weiter: In einem Fenster oder auf einem Balkon sah ich Wäsche hängen, Blumentöpfe, Rauch aus einem Ofenrohr. Rasch versank die Sonne hinter den gezackten Gebäuden und warf lange, grotesk verformte Schatten. Schau an, sagte ich mir, das ist also aus der Hauptstadt unseres Tausendjährigen Reichs geworden; was auch kommen mag, wir werden den Rest unseres Lebens mit dem Wiederaufbau zu tun haben. Dann stellte ich einige Petroleumlampen um mich auf und zog endlich die Fotografie aus der Tasche. Ich muss gestehen, dass mich dieses Bild erschreckte: So eingehend ich es auch betrachtete, ich erkannte diesen Mann nicht, sein Gesicht war unter der Mütze nur ein weißer Fleck, zwar nicht völlig verschwommen, es waren Nase, Mund, Augen zu erkennen, aber ohne Gesichtszüge, ohne Charakteristika, es hätte jedes beliebige Gesicht sein können, ich verstand nicht, während ich meinen Schnaps trank, wie das möglich war, warum ich mir beim Betrachten dieses schlechten Abzugs nicht augenblicklich und ohne Zögern sagen konnte: Ja, das ist mein Vater, oder: Nein, das ist nicht mein Vater, derartige Zweifel erschienen mir unerträglich, ich hatte mein Glas ausgetrunken, mir ein zweites eingegossen und musterte noch immer das Foto, erforschte mein Gedächtnis, um die Bruchstücke der Erinnerung an meinen Vater zusammenzufügen, an sein Aussehen, aber es war, als suchten diese Einzelheiten eine um die andere das Weite, als entzögen sie sich, der weiße Fleck auf der Fotografie stieß sie ab wie ein Magnetpol einen anderen, gleichnamigen, zerstreute sie, zersetzte sie. Ich hatte kein Bild von meinem Vater: Einige Zeit nach seinem Fortgang hatte meine Mutter sie alle vernichtet. Und jetzt zerstörte dieses mehrdeutige und ungreifbare Bild alles, was mir an Erinnerungen geblieben war, verdrängte seine lebendige Gegenwart durch ein verschwommenes Gesicht und eineUniform. Zornig zerriss ich die Fotografie in mehrere Stücke und warf sie vom Balkon. Dann leerte ich mein Glas und goss mir gleich noch eins ein. Ich schwitzte, wäre am liebsten aus meiner Haut gefahren, die zu eng für meine Wut und Angst geworden war. Ich zog mich aus und setzte mich nackt vor die Balkontür, ohne mir die Mühe zu machen, die Lampen zu löschen. Während ich Geschlecht und Hodensack in der einen Hand hielt wie einen kleinen verletzten Spatzen, den man auf dem Feld aufliest, trank ich Glas um Glas und rauchte wütend; als die Flasche leer war, packte ich sie am Hals und schleuderte sie weit fort, in Richtung des Parks, ohne mich um Spaziergänger zu scheren. Ich wollte andere Sachen hinauswerfen, die Wohnung leer räumen, die Möbel runterwerfen. Ich ließ mir etwas Wasser über das Gesicht laufen, hob eine Petroleumlampe und betrachtete mich im Spiegel: Meine Züge waren bleich, aufgelöst, ich hatte den Eindruck, dass mein Gesicht verliefe,
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