Die Wohlgesinnten
danach verlangt, dorthin zu kommen, wie denjenigen, der tot oder sterbend unten in dieser Grube liegt. Ihr werdet mir entgegenhalten, einen Soldaten im Kampf zu töten sei etwas anderes, als einen wehrlosen Zivilisten umzubringen; das Kriegsrecht erlaube das eine, aber nicht das andere; die allgemeine Moral desgleichen. Abstrakt betrachtet, ist das sicherlich ein gutes Argument, doch trägt es den Bedingungen dieses Krieges nicht im Entferntesten Rechnung. Die nach dem Krieg vollkommen willkürlich eingeführte Unterscheidung zwischen den »militärischen Operationen« einerseits, die denen jeder anderen kriegerischen Auseinandersetzung entsprachen, und andererseits den »Gräueltaten«, die von einer Minderheit sadistischer und kranker Täter verübt wurden, ist, wie ich zu zeigen hoffe, ein tröstliches Fantasiegebilde der Sieger – der westlichen Sieger, müsste ich hinzufügen, denn die Sowjets haben trotz aller Rhetorik immer gewusst, worauf es ankam: Stalin begegnete nach dem Mai 1945 und nach den ersten demonstrativen Betroffenheitsbekundungen der illusorischen »Gerechtigkeit« nur mit beißendem Spott, ihm ging es um die konkreten und praktischen Dinge, um Sklaven und Material für den Wiederaufbau, nicht um Gewissensbisse und Wehklagen, weil er so gut wie wir wusste, dass die Toten blind sind für Tränen und dass man sich für Gewissensbisse nichts kaufen kann. Ich berufe mich nicht auf den von unseren braven deutschen Anwälten so hoch geschätzten Befehlsnotstand. Was ich getan habe, geschah in klarer Erkenntnis der Sachlage, in der festen Überzeugung, es sei meine Pflicht, es sei unumgänglich, mochte es auch noch so unangenehm und betrüblich sein. Der totale Krieg bedeutet auch, dass es den Zivilisten nicht mehr gibt, und zwischen dem jüdischen Kind, das vergast oder erschossen wurde, und dem deutschen Kind, das den Brandbomben zum Opfer fiel, gibt esnur den Unterschied der Mittel; beide Tode waren gleich vergeblich, keiner hat den Krieg um eine einzige Sekunde abgekürzt; doch in beiden Fällen glaubten der Mann oder die Männer, die sie getötet haben, dass er gerecht und notwendig gewesen sei; wem ist ein Vorwurf daraus zu machen, wenn sie geirrt haben? Das gilt auch, wenn wir künstlich unterscheiden zwischen dem Krieg und dem, was der jüdische Rechtsanwalt Lempkin als Genozid bezeichnet hat, wobei anzumerken ist, dass es zumindest in unserem Jahrhundert noch nie einen Genozid ohne Krieg gegeben hat, dass der Genozid jenseits des Krieges nicht existiert und dass es sich bei ihm, wie beim Krieg, um ein kollektives Phänomen handelt: Der moderne Genozid ist ein Prozess, der den Massen für die Massen zugefügt wird. In unserem Fall ist er außerdem ein Prozess, der durch die Erfordernisse der industriellen Produktionsweise strukturiert wird. Wie der Arbeiter nach Marx dem Produkt seiner Arbeit entfremdet wird, so wird der Befehlsempfänger im Genozid oder im totalen Krieg moderner Prägung dem Produkt seines Handelns entfremdet. Das gilt selbst für den Fall, dass ein Mann einem anderen sein Gewehr an den Kopf hält und den Abzug betätigt. Denn das Opfer ist von anderen Männern dorthin geführt und sein Tod von wieder anderen beschlossen worden, und auch der Schütze weiß, dass er nur das letzte Glied in einer langen Kette ist und dass er nicht mehr Skrupel zu haben braucht als das Mitglied eines Erschießungskommandos, das im Zivilleben einen rechtskräftig Verurteilten hinrichtet. Wie der Schütze weiter weiß, ist ein Zufall dafür verantwortlich, dass er schießt, dass sein Kamerad für die Absperrung sorgt und ein dritter den Lastwagen fährt. Allenfalls könnte er versuchen, mit der Wache oder dem Fahrer zu tauschen. Ein anderes Beispiel, der Fülle der historischen Literatur und nicht meiner persönlichen Erfahrung entnommen: die Vernichtung Schwerbehinderter und psychisch Kranker deutscherStaatsangehörigkeit bei der so genannten »Aktion Gnadentod«, die zwei Jahre vor der »Endlösung« eingeleitet wurde. Hier wurden die im Rahmen einer Rechtsordnung ausgewählten Kranken in einem Gebäude von regulären Krankenschwestern in Empfang genommen, registriert und entkleidet; Ärzte untersuchten sie und führten sie in eine Kammer, die hermetisch verschlossen wurde; ein Arbeiter öffnete die Gaszufuhr, andere reinigten die Kammern; ein Polizist stellte die Sterbeurkunde aus. Nach dem Krieg befragt, antwortete ein jeder von ihnen: Ich, schuldig? Die Krankenschwester hat niemanden getötet,
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