Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
Vom Netzwerk:
neunzigtaus end sechs hundertvier und achtzig, um genau zu sein.« – »Das nenne ich wirklich genau. Aber sagen Sie, da kann man doch mit einer Einsatzgruppe nicht viel ausrichten.« – »Stimmt. Wir prüfen gegenwärtig andere Verfahren.« Er blickte auf die Uhr und stand auf. »Jetzt müssen Sie mich aber entschuldigen, ich muss wieder zum Amtschef. Vielen Dank für den Schnaps.« – »Ich habe für das Päckchen zu danken! Das Geld für Lulley schicke ich Ihnen nachher hinüber.« Wie auf Kommando rissen wir beide den rechten Arm empor und schmetterten unser »Heil Hitler!«.
    Als Eichmann gegangen war, setzte ich mich wieder undbetrachtete das Päckchen auf meinem Schreibtisch. Es enthielt die Noten der Rameau- und Couperin-Stücke, die ich für den kleinen Juden von Shitomir bestellt hatte. Das war dumm gewesen, naiv und sentimental; trotzdem überfiel mich eine tiefe Schwermut. Ich glaubte, die Reaktionen der Männer und Offiziere während der Erschießungen jetzt besser verstehen zu können. Wenn sie litten, wie ich während der Großen Aktion gelitten hatte, so lag das nicht nur an den Gerüchen und dem Anblick des Blutes, sondern auch am Schrecken und Leid der Verurteilten; und ganz ähnlich waren für diejenigen, die wir erschossen, das Leid und der Tod, den ihre Lieben vor ihren Augen erlitten – ihre Frauen, Eltern, Kinder –, oft schlimmer als der eigene Tod, der für sie am Ende eine Art Erlösung war. Ich kam zu dem Ergebnis, dass Handlungsweisen, die ich für grundlosen Sadismus gehalten hatte, die unglaubliche Brutalität, mit der einige Männer die Verurteilten vor den Hinrichtungen behandelten, vielfach nur ein Ausfluss des überwältigenden Mitleids war, das sie empfanden und das sich, da es anders nicht zum Ausdruck gebracht werden konnte, als Wut Luft machte, als ohnmächtige, ziellose Wut, die sich daher fast unvermeidlich gegen diejenigen richten musste, die ihr eigentlicher Anlass waren. Wenn die schrecklichen Massaker im Osten eines bewiesen, dann paradoxerweise die schreckliche, unabänderliche Solidarität der Menschen untereinander. Mochten unsere Männer noch so brutalisiert und abgestumpft sein, keiner von ihnen konnte eine jüdische Frau töten, ohne an seine Frau, seine Schwester oder seine Mutter zu denken, ein jüdisches Kind töten, ohne die eigenen Kinder vor sich im Massengrab zu sehen. Ihre Reaktionen, ihre Gewalttätigkeit, ihr Alkoholismus, ihre Nervenzusammenbrüche, ihre Selbstmorde, meine eigene Traurigkeit – das alles bewies, dass es den Anderen gibt, dass es ihn als Anderen, als Menschen gibt und dass kein Wille, keine Ideologie, kein noch so großes Maß anDummheit und Alkohol dieses Band zerreißen kann – dieses überdehnte, aber unzerstörbare Band. Das ist eine Tatsache und nicht bloßes Meinen.
    Auch auf höchster Ebene erkannte man diese Tatsache und begann ihr Rechnung zu tragen. Wie Eichmann erläutert hatte, prüfte man neue Methoden. Einige Tage nach Eichmanns Besuch traf in Kiew ein gewisser Dr. Widmann ein, um einen Lastwagen neuer Art auszuliefern. Dieser Lkw der Marke Saurer wurde von Heydrichs Fahrer Findeisen gebracht, einem schweigsamen Mann, der sich trotz zahlreicher Aufforderungen hartnäckig weigerte, uns mitzuteilen, warum er für diese Reise ausgesucht worden war. Dr. Widmann, zuständig für das Referat Chemie im Kriminaltechnischen Institut der Sicherheitspolizei, das der Kripo angegliedert war, hielt vor den Offizieren einen längeren Vortrag, in dem er unter anderem verkündete: »Das Gas ist ein eleganteres Mittel.« Der Lastwagen erstickte die in seinem hermetisch abgedichteten Inneren eingeschlossenen Menschen mit den eigenen Abgasen; diese Lösung war in der Tat so elegant wie sparsam. Wie uns Widmann erläuterte, hatte man vorher andere Verfahren erprobt; er selbst hatte in Minsk unter den Augen seines Amtschefs, des Gruppenführers Nebe, Experimente an den Insassen einer Nervenheilanstalt durchgeführt; ein Test mit Sprengstoff hatte katastrophale Ergebnisse gezeitigt. »Unbeschreiblich. Ein Desaster.« Blobel zeigte sich begeistert: Das neue Spielzeug gefiel ihm ausnehmend, er konnte es kaum erwarten, es einzuweihen. Häfner wandte ein, dass der Lkw kein großes Fassungsvermögen habe – Dr. Widmann hatte von fünfzig, höchstens sechzig Personen gesprochen – und nicht so zügig arbeite; daher könne er nicht sehr effizient sein. Doch Blobel fegte alle Einwände vom Tisch: »Wir wenden diese Methode bei Frauen und Kindern an,

Weitere Kostenlose Bücher