Die Wohlgesinnten
überwinden, du hast keine Wahl.« All das hatte ich hastig, ohne innezuhalten, fast in einem Atemzug von mir gegeben. Thomas schwieg, trank seinen Wein. »Und dann ist da noch etwas«, fügte ich hinzu. »Das sage ich nur dir, dir allein. Der Mord an den Juden bringt im Grunde genommen gar nichts. Rasch hat vollkommen Recht. Er ist ohne wirtschaftlichen oder politischen Nutzen, er ist in praktischer Hinsicht ohne Sinn und Zweck. Im Gegenteil, er ist ein Bruch mit der Welt der Wirtschaft und der Politik. Er ist ein Verlustgeschäft, die reine Verschwendung. Das ist alles. Insofern kann er nur einen einzigen Sinn haben: den eines endgültigen Opfers, das uns für immer zusammenschweißt, das uns ein für alle Mal daran hindert, den Rückweg anzutreten. Verstehst du? Damit verlassen wir die Welt der Wette, eine Umkehr ist nicht mehr möglich. Der Endsieg oder der Tod. Du und ich, wir alle, wir sind jetzt unauflöslich aneinandergekettet, durch die gemeinsam begangenen Taten mit an den Ausgang dieses Krieges gekettet. Und wenn wir uns verrechnet haben, wenn wir die Zahl der Fabriken, die die Roten gebaut oder hinter den Ural verlegt haben, unterschätzt haben, dann sind wir geliefert.« Thomas trank seinen letzten Schluck Wein. »Max«, sagte er schließlich, »du denkst zu viel. Das bekommt dir nicht. Kognak?« Ich musste husten und nickte. Der Hustenanfall wollte nicht aufhören, ich hatte das Gefühl, als ob sich im Bereich des Zwerchfells ein massives Hindernis zusammengeballt habe, etwas, was nicht hinauswollte, und musste plötzlich heftig aufstoßen. Eine Entschuldigung murmelnd, stand ich rasch auf und lief in den hinteren Teil des Restaurants. Dort fand ich eine Tür und öffnete sie, sie führte auf einen Innenhof. Ich wurde von einem schrecklichen Brechreiz geschüttelt: Schließlich konnte ich mich übergeben. Ich fühlte mich zwar erleichtert, aber auch erschöpft, und musste mich einige Minuten gegen einen Karren lehnen, der dort, die Deichselarme in die Luft ragend,abgestellt war. Schließlich ging ich wieder hinein. Ich bat die Kellnerin, mir Wasser zu bringen: Sie kam mit einem Eimer, ich trank ein wenig und befeuchtete mir das Gesicht. Dann kehrte ich an unseren Tisch zurück. »Tschuldigung.« – »Geht’s dir nicht gut? Bist du krank?« – »Nein, es ist nichts, nur ein kleines Unwohlsein.« Es passierte mir nicht zum ersten Mal. Aber ich weiß nicht genau, wann es begonnen hat. Vielleicht in Shitomir. Übergeben hatte ich mich nur einoder zweimal, wurde aber nach den Mahlzeiten regelmäßig von diesem unangenehmen und lästigen Unwohlsein heimgesucht, dem stets ein trockener Husten vorausging. »Du solltest einen Arzt aufsuchen«, sagte Thomas. Man hatte die Kognaks gebracht, und ich trank einen Schluck. Ich fühlte mich besser. Wieder bot mir Thomas eine Zigarre an; ich nahm sie, zündete sie aber nicht gleich an. Thomas sah beunruhigt aus. »Max … Solche Ideen musst du für dich behalten. Damit kannst du dir gewaltigen Ärger einhandeln.« – »Ja, ich weiß. Aber darüber spreche ich nur mit dir, weil du mein Freund bist.« Ich wechselte unvermittelt das Thema: »Na, schon was gefunden unter den Töchtern des Landes?« Er lachte: »Noch keine Zeit gehabt. Aber das dürfte nicht allzu schwierig sein. Die Kellnerin ist ganz passabel, findest du nicht?« Ich hatte sie noch nicht einmal angesehen, sagte aber Ja. »Und du?«, fragte er. – »Ich? Hast du gesehen, was wir zu tun haben? Ich bin froh, wenn ich eine Mütze Schlaf finde, ich kann keine Nachtstunden opfern.« – »Und in Deutschland? Bevor du hierhergekommen bist? Wir haben uns seit Polen nicht oft gesehen. Außerdem bist du sehr diskret. Du hast nicht zufällig irgendwo ein nettes Mädel versteckt, das dir lange Liebesbriefe schreibt: ›Max, geliebter Max, komm rasch zu mir zurück, ach, wie grausam ist doch dieser Krieg‹?« Ich stimmte in sein Lachen ein und zündete mir meine Zigarre an. Thomas rauchte bereits. Vermutlich hatte ich zu viel getrunken, jedenfalls hatte ich plötzlich dasBedürfnis zu reden: »Nein, kein Mädel. Aber lange bevor ich dich kennenlernte, war ich verlobt. Eine Sandkastenliebe.« Ich sah, dass er neugierig war: »Ach, ja? Erzähl!« – »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Wir haben uns seit frühesten Kindheitstagen geliebt. Aber ihre Eltern waren dagegen. Ihr Vater, oder vielmehr ihr Stiefvater, war ein französischer Großbürger, ein Mann mit Prinzipien. Man hat uns gewaltsam auseinandergerissen,
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