Die Wohlgesinnten
in Internate gesteckt, sodass wir weit voneinander entfernt waren. Sie hat mir heimlich verzweifelte Briefe geschrieben, ich ihr auch. Dann wurde ich zum Studium nach Paris geschickt.« – »Und du bist nie zurückgekehrt?« – »Manchmal, während der Ferien, als ich etwa siebzehn war. Und dann habe ich sie noch ein einziges Mal wiedergesehen, Jahre später, kurz bevor ich nach Deutschland gekommen bin. Ich habe ihr gesagt, dass unsere Verbindung unauflöslich ist.« – »Warum hast du sie nicht geheiratet?« – »Das ging nicht.« – »Und heute? Du kannst ihr eine gesicherte Existenz bieten.« – »Heute ist es zu spät: Sie ist verheiratet. Du siehst, den Frauen ist nicht zu trauen. Es ist immer das gleiche Lied. Einfach ekelhaft.« Ich war traurig und bitter, ich hätte nicht davon anfangen sollen. »Du hast Recht«, sagte Thomas. »Das ist der Grund, warum ich mich nie verliebe. Im Übrigen halte ich mich lieber an verheiratete Frauen, das ist sicherer. Wie hieß sie denn, deine Herzdame?« Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das spielt keine Rolle.« Schweigend rauchten wir und tranken unseren Kognak. Thomas wartete, bis ich meine Zigarre beendet hatte, dann erhob er sich. »Komm, wir wollen keine Trübsal blasen. Schließlich hast du Geburtstag.« Wir waren die letzten Gäste, die Kellnerin döste im Hintergrund des Saals. Draußen schnarchte unser Fahrer im Opel. Der Nachthimmel leuchtete, ruhig und klar hüllte der abnehmende Mond die zerstörte schweigende Stadt in sein weißliches Licht.
Ich war sicherlich nicht der Einzige, der sich Fragen stellte. In den Reihen der Wehrmacht machte sich eine versteckte, aber tief sitzende Unsicherheit bemerkbar. Zwar blieb die Zusammenarbeit mit der SS gut, doch die Große Aktion hatte für beträchtliche Unruhe gesorgt. Von Reichenau hatte einen neuen Tagesbefehl herausgegeben, einen groben und schroffen Text, der in kompromisslosem Widerspruch zu Raschs Überlegungen stand. Die Zweifel der Männer wurden dort als unklare Vorstellungen gegenüber dem bolschewistischen System beschrieben. Weiter hieß es: Der Soldat ist im Ostraum nicht nur ein Kämpfer nach den Regeln der Kriegskunst, sondern auch Träger einer unerbittlichen völkischen Idee und der Rächer für alle Bestialitäten, die deutschem und artverwandtem Volkstum zugefügt wurden. Deshalb muß der Soldat für die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum volles Verständnis haben. Alles menschliche Mitgefühl müsse unterdrückt werden: Einen vorbeikommenden slawischen Landesbewohner, der vielleicht ein Agent der Sowjets sei, an den deutschen Feldküchen mitessen zu lassen sei völlige Gedankenlosigkeit, eine mißverstandene Menschlichkeit . Die Städte seien zu zerstören, die Partisanen zu vernichten, alle Unentschlossenen ebenso. Natürlich hatte von Reichenau nicht alle diese Ideen selbst entwickelt, der Reichsführer dürfte ihm einige Abschnitte souffliert haben, entscheidend aber war, dass dieser Befehl ganz auf der Linie des Führers und seiner Ziele lag , um die schöne Wendung eines anonymen Beamten im Preußischen Landwirtschaftsministerium aufzunehmen, daher war es kaum verwunderlich, dass Hitler von dem Befehl begeistert war und ihn als Vorgabe an alle Armeen im Osten verteilen ließ. Doch ich bezweifelte, dass das genügte, um die Gemüter zu beruhigen. Der Nationalsozialismus war eine umfassende, totale Philosophie, eine Weltanschauung, wie wir sagten; jeder sollte sich in ihr wiedererkennen können,sie musste Platz für alle bieten. Nun war es aber, als hätte man in dieses Ganze gewaltsam eine Öffnung getrieben, um das Schicksal aller Nationalsozialisten auf einen einzigen Weg ohne Umkehr festzulegen, einen Weg, dem alle folgen mussten, bis ans Ende.
Der verhängnisvolle Charakter der Ereignisse in Kiew verstärkte nur mein Unwohlsein. Im Korridor des Jungfrauenpalastes traf ich einen Bekannten aus Berlin: »Sturmbannführer Eichmann! Sie sind befördert worden? Herzlichen Glückwunsch!« – »Ah, Dr. Aue. Sie suche ich gerade. Ich habe ein Päckchen für Sie. Man hat es mir im Prinz-Albrecht-Palais für Sie mitgegeben.« Ich hatte diesen Offizier zu der Zeit kennengelernt, als er unter Heydrich in Berlin die Reichszentrale für jüdische Auswanderung organisierte; häufig erschien er damals in unserer Abteilung, um unseren juristischen Rat einzuholen. Damals war er Obersturmführer; nun präsentierte er seine neuen Spiegel am Kragen
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