Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
Vom Netzwerk:
einer schwarzen Ausgehuniform, die deutlich von unserem Feldgrau abstach. Er spreizte sich wie ein kleiner Pfau; das war merkwürdig, früher hatte er auf mich den Eindruck eines beflissenen, schlecht bezahlten Beamten gemacht, ich erkannte ihn nicht wieder. »Was führt Sie zu uns?«, fragte ich ihn, während ich ihn in mein Büro bat. »Ihr Päckchen, und ich habe noch ein weiteres für einen Ihrer Kameraden.« – »Nein, ich meine nach Kiew.« Wir hatten uns gesetzt, er beugte sich mit verschwörerischer Miene vor: »Ich treffe hier den Reichsführer.« Er strahlte vor Stolz und schien es unbedingt loswerden zu müssen: »Mit meinem Amtschef. Eigens herbefohlen.« Abermals beugte er sich vor: So ähnelte er einem Raubvogel, klein, aber lauernd. »Ich habe einen Bericht vorlegen müssen, eine statistische Aufstellung. Von meiner Dienststelle abgefasst. Sie wissen, dass ich jetzt ein Referat leite?« – »Nein, das war mir nicht bekannt. Meine Glückwünsche.« – »Das IV B 4 für Judenangelegenheiten.« Er hatteseine Mütze auf meinen Schreibtisch gelegt und hielt eine schwarze Aktentasche fest auf die Knie gedrückt; aus seiner Uniformjacke zog er ein Etui, holte eine Brille mit dicken Gläsern daraus hervor und öffnete seine Aktentasche, um ihr einen großen, ziemlich dicken Umschlag zu entnehmen, den er mir reichte. »Hier ist das Ungetüm. Wohlgemerkt, ich frage nicht, was darin ist.« – »Oh, das ist kein Geheimnis. Das sind Klaviernoten.« – »Sie sind Musiker? Denken Sie nur, ich spiele auch ein wenig. Ich spiele Geige.« – »Leider nicht. Die waren für jemand anders bestimmt, aber der ist inzwischen tot.« Er nahm die Brille ab: »Oh, das tut mir sehr leid. Dieser Krieg ist wirklich schrecklich. Übrigens«, fügte er hinzu, »hat mir Ihr Freund Dr. Lulley auch eine kleine Rechnung mitgegeben und mich gebeten, Sie um die Übernahme der Kosten und Spesen zu ersuchen.« – »Kein Problem. Ich schicke Ihnen das Geld bis heute Abend. Wo sind Sie untergekommen?« – »Beim Stab des Reichsführers.« – »Sehr schön. Vielen Dank für die Gefälligkeit. Das war sehr freundlich von Ihnen.« – »Oh, es war mir ein Vergnügen. Wir SS-Männer müssen uns doch gegenseitig helfen. Ich bedaure nur, dass ich zu spät gekommen bin.« Ich zuckte die Achseln: »Das lässt sich nicht ändern. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« – »Oh, eigentlich nicht. Der Dienst, wissen Sie. Aber …« Er schien nur ungern zu verzichten, daher baute ich ihm eine goldene Brücke: »Hier sagen wir immer, Krieg ist Krieg …«, er fiel ein und beendete den Satz mit mir: »… und Schnaps ist Schnaps. Ja, ich weiß. Na gut, einen winzigen Schluck.« Ich holte aus meiner Kiste zwei Becher und die Flasche, die ich für Gäste bereithielt. Eichmann stand auf, um feierlich den Toast auszubringen: »Auf die Gesundheit des Führers!« Wir stießen an. Ich sah, dass er noch gerne weiterreden würde. »Was hat es eigentlich mit Ihrem Bericht auf sich? Wenn er nicht der Geheimhaltung unterliegt.« – »Nun, das ist alles sehr hush-hush , wie die Engländer sagen.Aber Ihnen kann ich es ja erzählen. Der Gruppenführer und ich sind vom Chef « – er sprach von Heydrich, der mittlerweile in Prag als Stellvertretender Reichsprotektor amtierte – »hierhergeschickt worden, um mit dem Reichsführer die Evakuierung der Juden des Reichs zu besprechen.« – »Evakuierung?« – »Exakt. Nach Osten. Bis zum Jahresende.« – »Alle?« – »Alle.« – »Und wohin werden sie geschickt?« – »Der größte Teil sicherlich nach Ostland. Und auch nach Süden zum Bau der Durchgangsstraße IV. Das steht noch nicht fest.« – »Verstehe. Und Ihr Bericht?« – »Eine statistische Zusammenfassung. Ich habe sie dem Reichsführer persönlich erläutert. Über die globale Lage in Bezug auf die jüdische Auswanderung.« Er hob einen Finger. »Wissen Sie, wie viele es gibt?« – »Wie viele was?« – »Juden. In Europa.« Ich schüttelte den Kopf: »Keine Ahnung.« – »Elf Millionen! Elf Millionen, können Sie sich das vorstellen? Wohlgemerkt, für die Länder, die noch nicht unserer Kontrolle unterliegen, wie England, geben die Zahlen nur Näherungen. Da sie dort keine Rassengesetze haben, mussten wir uns an konfessionelle Kriterien halten. Aber trotzdem wird die Größenordnung deutlich. Allein hier in der Ukraine haben wir fast drei Millionen.« In noch pedantischerem Ton setzte er hinzu: »Zwei Millionen neunhundertvier und

Weitere Kostenlose Bücher