Die Wohltäter: Roman (German Edition)
genug, hatte er die Frechheit besessen, ein Ultimatum zu stellen. Er verlangte, mit ihr zu sprechen. Er wollte sich erklären. Deshalb hatte Jesse zunächst damit gezögert, Jürgen darum zu bitten, die Veröffentlichung des Artikels zu stoppen. Dann hatte er sich allerdings umentschieden. Sie waren gezwungen, sich von Jürgen helfen zu lassen. Jesse hatte Miriam vorausgesagt, was passieren würde, wenn sie auf Jürgens Wunsch eingingen, mit ihr zu sprechen. Seine Prophezeiungen trafen bis ins kleinste Detail zu.
Jürgen hatte auf pathetische Weise versucht, sich als verlorener Vater zu rechtfertigen. Er sagte, dass es nie sein Fehler gewesen sei. Jesse habe damit gedroht, der ganzen Welt zu erzählen, wer Miriams Mutter gewesen sei. Was Jesse geplant habe, wäre für Miriam kaum erträglich gewesen, in Anbetracht der Verbrechen, die ihre Mutter begangen hatte. Um sie zu schützen, hatte Jürgen davon abgesehen, Miriam zu kontaktieren, erklärte er ihr jetzt.
Miriam wurde übel von all den Lügen, mit denen Jürgen sie überhäufte, und sie ekelte sich bei dem Gedanken, dass er einmal versucht hatte, die Bewegung zu verlassen. Er war ein kleiner, schwacher und verachtenswerter Mensch. Sie musste versuchen, ihr Unbehagen abzuschütteln. Zum Glück hatte Jesse ihr beigebracht, niemals auf einen Verräter zu hören.
Obwohl sie ihrem biologischen Vater für vieles dankbar sein musste. Sie war die Kronprinzessin gewesen, die man nun zur Königin gekrönt hatte.
Sie hatte trainiert, sie alle zu ignorieren. Jürgen und Ingrid. Kleine, aufdringliche Verräter, die die Bewegung verlassen wollten und sie baten, ihnen zuzuhören.
Jürgen hatte an ihrem Geburtstag angerufen. Es hatte sowieso keine Feier gegeben, angesichts der chaotischen Zustände, die nach der Verhaftung von Jesse herrschten. Oder Møller, wie sie ihren Stiefvater mittlerweile nannte, wenn andere zuhörten. Er, der ihr am nächsten stand.
Miriam hatte die meisten Länder besucht und Menschen getroffen, die überall mit der Sinnlosigkeit des Daseins leben mussten. Ihre Tätigkeit war noch nie so wichtig gewesen wie heute. Jetzt führte sie ihre eigene Welt selbständig, genau wie er es gesagt hatte. Er würde sie nie verlassen; auch das hatte er gesagt. Jetzt war er dennoch fort, in irgendeinem idiotischen Untersuchungsgefängnis außerhalb Kopenhagens. Es war die Schuld dieses lächerlichen Engländers. Natürlich hatten sie ihm ein wenig Angst einjagen wollen, aber es war nicht ihr Ziel gewesen, einen so ernsten Unfall zu verursachen.
Es war ihr Geburtstag, und sie trug die Verantwortung, den Krieg fortzuführen. Die üblichen Geschäfte. Es ging nicht um sie, noch nicht einmal um Jesse, sondern um den Auftrag, Kapital mit Kapital zu schlagen. Sie machte eine Drehung mit dem Stuhl und betrachtete die lange Reihe eingerahmter Fotografien an der Wand. Sie war nicht allein.
Die Notwendigen sahen sie von ihren strengen Porträts aus an und versprachen ihr, hart für das gemeinsame Ziel zu arbeiten. Wenn einer von ihnen starb, würde ein anderer unmittelbar seine Aufgaben übernehmen. So war das System aufgebaut, und so würde es immer weitergehen. Sie nickte ihnen zu mit einem Ausdruck des Respekts und der Solidarität.
Zurzeit arbeitete sie auch an der einen oder anderen eigenen Initiative. Jesse war auf Umweltfragen fixiert, die seiner Voraussicht nach den nächsten lukrativen Sektor bilden würden. Miriam selbst plante, wie die Organisation im Kampf gegen Aids tätig werden könnte. Für diesen Zweck standen noch viele Spenden zum Sammeln bereit.
Sie befühlte Jesses Zinnlöwen, der auf dem Schreibtisch stand. Es war merkwürdig, sein Büro übernommen zu haben. »Du hast es im Blut«, hatte er ihr gesagt, bevor sie gezwungen worden waren, ihr Gespräch zu beenden.
Sie hatte Lust, die Schreibtischunterlage anzuheben. Eine kurze Zeit verflog, in der sie versuchte, an anderes zu denken und der Versuchung zu widerstehen.
Dann hob sie ihren Kopf und holte den alten Zeitungsartikel hervor, der dort seit vielen Jahren lag.
Als sie das Bild ansah, schoss ihr das Gift erneut direkt in die Venen. Wie es immer geschah.
Sie war schön gewesen, auf eine brutale Weise. Das Haar hing ihr in dichten Strähnen um das Gesicht, und ihre Augen blickten schräg zur Seite. Miriam blieb immer an ihrem Mund hängen. Die Frau auf dem Foto hatte einen breiten Mund mit beinahe erotisch fülligen Lippen, den sie so fest zusammenkniff, dass sich in den Mundwinkeln zwei
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