Die Wohltaeter
jüngster Bruder. Er betrieb den Salon gemeinsam mit dem mittleren Bruder, Manuel. Eigentlich hatten die Eltern Luciano einen biblischen, schwedischen Namen geben wollen, aber Ninos und seine kleine Schwester hatten den Namen Luciano erbettelt, nach dem Gangsterkönig Lucky Luciano, der durch viele Filme und Fernsehserien unsterblich geworden war. Er war der Lieblingsstar vieler Assyrer in Södertälje, da er schlau und gutaussehend war und eine assyrische Betrachtungsweise der Dinge hatte: Die Familie kam immer an erster Stelle, und Loyalität war das höchste menschliche Gut.
Während Manuel ehrgeizig und extrovertiert war, roch Luciano lieber an den Blumen. Er war ein Denker. Ninos und Manuel warenwie Wahnsinnige durch ihr Leben gerast, Luciano dagegen war nachdenklicher, oder »vordenklich«, wie seine eigene Wortschöpfung dafür lautete.
Luciano sah, wie Ninos sich durch den Perlenvorhang schob, senkte jedoch schnell den Kopf. Er konnte den Anblick seines Bruders, der immer sein Idol gewesen war, kaum ertragen. Ninos war immer derjenige gewesen, der die Sachen in Angriff genommen und mit seinen Brüdern geschimpft hatte, wenn sie nicht richtig in die Gänge gekommen waren. Stets kam er wie ein Rettungswagen angesaust und löste alle Schwierigkeiten, von großen Gefühlskrisen bis hin zu eher profanen Angelegenheiten. Über die meisten Dinge konnte er laut und herzlich lachen. Schlaf und Entspannung waren seiner Meinung nach uninteressante Beschäftigungen. Ninos war der unermüdliche Motor der Familie gewesen, und nun war er plötzlich zum Stillstand gekommen.
Luciano sah vorsichtig zu seinem Bruder auf und versuchte, unberührt auszusehen. »Gestern Abend war ich aus, und die krasseste Braut, so um die dreißig, kam auf mich zu und fragte mich, ob ich dich kenne. Sie fand, dass wir uns ähnlich sehen. Du solltest häufiger ausgehen!«
Ninos sah ihn vorwurfsvoll an, sagte jedoch nichts.
Luciano wurde vorsichtiger. »Was treibst du so? Was sagen die Ärzte?«
Manuel zeigte sich im Kaffeeraum. Er hatte gerade seinen geliebten Porsche zum TÜV gebracht und verhielt sich nicht ganz so feinfühlig wie sein Bruder.
»Wie siehst du denn aus?« Bestürzt sah er Ninos an. »Amer beyto! Möge dein Haus sich vergrößern. Man schämt sich ja. Könntest du bitte aufhören, wie ein obdachloser Rapper herumzulaufen? Oder stellst du einen verwachsenen südländischen Teenager in Sportklamotten dar? Man erkennt dich überhaupt nicht wieder. Mama hat recht – du solltest heiraten, eine Familie gründen, ein neues Restaurant kaufen und etwas aus deinem Leben machen. Was ist nur aus Stockholms beliebtestem Restaurantbesitzer geworden? Bald wirst du der einzige Fünfunddreißigjährige auf der ganzen Welt sein, der keine Kinder hat.«
Ninos hatte keine Lust zu diskutieren. »Reg dich ab. Ich bemühe mich. Habe heute nicht ganz so viele Tabletten genommen und bin hierhergekommen, um mir die Haare schneiden zu lassen. Ich versuche doch gerade, zu mir zurückzufinden.«
Manuel musterte ihn noch immer. »Zu mir zurückfinden? Merkst du nicht, wie du dich anhörst? Auf welche Abwege bist du denn geraten? Raff dich auf, abi. Man fängt an, sich ernsthaft Sorgen um dich zu machen.« Ninos’ Eltern hatten ihren jüngeren Kindern beigebracht, den großen Bruder »abi« zu nennen, was »Bruder« auf Türkisch hieß und gleichzeitig auch eine Anrede an Fremde war, denen man Respekt erweisen wollte.
»Quatsch nicht rum«, sagte Ninos müde. »Hast du Zeit, mir die Haare zu schneiden, oder soll ich das Mädchen fragen, das du neu eingestellt hast?«
Manuel war komplett ausgebucht, seinen großen Bruder konnte er allerdings nicht abweisen. Er führte ihn zum Friseurstuhl.
Der Salon war voller Menschen. Manuels Klientel bestand aus Solvallas besten Trabrennfahrern, Kommunalpolitikern, Rowdies, Grundschullehrern und Eltern von Grundschulkindern, Rentnern und anderen Vorortbewohnern des Stadtteils Rissne. Es gab Iraner, Türken, Kurden, Serben, Bosnier, Somalier, Gambier, Finnen, Libanesen, Marokkaner, ein paar Amerikaner und Deutsche, wenige Norweger und Dänen und selbstverständlich Assyrer und Schweden mit Migrationshintergrund. Manuel und Luciano hatten alle im Blick. Unabhängig davon, wer sich gerade im Salon befand, konnten die Brüder Heimlichkeiten austauschen. War ein Türke in der Nähe, wechselten sie ins Arabische, in Anwesenheit von Arabern sprachen sie Assyrisch. Mit Schweden gab es meistens keine Probleme, aber die
Weitere Kostenlose Bücher