Die Wohltaeter
Ausdauer besaß, sich dieser neuen Aufgabe zu stellen, war sie mit einer Büchse und einem Regenponcho ausgerüstet worden. Als Angestellte im Laden hatte sie einen – wenn auch bescheidenen – Lohn erhalten. Nun würde sie offenbar ganz ohne Bezahlung arbeiten müssen. Eifrig hatte sie ihrem Ausbilder, wie er sich selbst bezeichnete, versichert, dass sie auch keinen Lohn erwarte. Sie hatte tiefen Respekt dafür empfunden, dass auch er ehrenamtlich tätig war.
Erhobenen Hauptes zog Tuva mit ihrer kleinen Büchse in der Hand durch die Straßen. Viele wollten etwas spenden. Sie hatte festgestellt, dass Einkaufszentren ein geeigneter Standort waren, und bemühte sich daher, mit Bussen und Pendelzügen überall im Großraum Stockholm umherzufahren, um eine möglichst gute Leistung zu erzielen. Laut ihrer privaten Statistik gaben die Bewohner der südlichen Stadtteile mehr als die der nördlichen. Vormittage waren besser als Nachmittage. Das Monatsende, kurz nachdem die Löhne ausgezahlt worden waren, eignete sich natürlich am allerbesten. Damit es von Anfang an schepperte, legte sie einige Münzen hinein und versuchte, den Blick der Entgegenkommenden einzufangen. Die meisten sahen auf den Boden oder zurSeite, aber wenn sie einmal den Blickkontakt hergestellt hatte, lächelte sie die Menschen an und hielt ihnen wortlos die Büchse entgegen, und nur selten wichen sie ihr aus.
Sie wunderte sich darüber, dass überwiegend Rentner und Ausländer ein paar Münzen in die Büchse steckten, obwohl sie wahrscheinlich am wenigsten Geld hatten. Aber sie blieben häufig vor ihr stehen und kramten langsam ihre Ein- oder Fünfkronenstücke hervor und schwatzten auch gern ein bisschen. Tuva hatte nichts dagegen, darüber zu berichten, wie groß das Elend in der Dritten Welt war, und dass auch kleine Beiträge vor Ort den großen Unterschied ausmachen konnten. Fast alle kannten die Altkleidersammlung, die einen guten Ruf genoss. Das Geld, was sie nun einsammelte, diene dem gleichen Zweck, erklärte sie. Ärztliche Versorgung, Ausbildung und Essen für die Ärmsten der Armen.
Mitunter kam schlechte Stimmung auf, wenn sich jemand vom Roten Kreuz oder vom Kinderhilfswerk in die Nähe stellte, in dasselbe Einkaufszentrum. Besonders an Samstagen, an denen die Büchse sich normalerweise schnell füllte. Dann konnte Tuva sogar ein wenig aggressiv werden, um zu zeigen, wessen Auftrag der Wichtigste war. »Wollt ihr helfen, die Hungersnot zu bekämpfen?«, rief sie den Vorbeigehenden mit weit aufgesperrten Augen zu. Paare eigneten sich gut, weil sie sich gegenseitig ein schlechtes Gewissen machten und daraufhin anfingen, in ihren Taschen zu kramen.
Das Hauptziel ihres Tuns bestand jedoch darin, triumphierend ins Büro zurückkehren zu können. Jeden Abend wurde ihr Ergebnis ins Notizbuch des Ausbilders eingetragen, und jeden Abend hoffte sie inständig, dass er sagen würde, sie habe mehr als die anderen eingenommen. Für den Kurs in England gab es nicht genügend Plätze – das hatte er ihr eingeschärft.
Mitunter nickte er ihr nur kurz zu und bat sie, zu gehen. Dann fuhr sie in ihre Wohnung zurück, wo sie schweigend in der Dunkelheit saß und sich dafür schämte, nicht genug geleistet zu haben. Einmal hatte er ihr vorgeworfen, dass manche Menschen vielleicht nicht genug zu essen hätten, weil sie sich nicht ausreichend angestrengt hatte. Diesen Satz sagte sie an jenen Abenden innerlich vor sich hin, während sie sich im Selbsthass suhlte.
All dies hatte eine besondere Wirkung – am nächsten Morgen stand sie bereits um fünf Uhr auf und ging auf Bahnhöfen und U-Bahn-Stationen umher. Dabei bekam sie selten viel zusammen, aber es war gut für die Disziplin. Immer, wenn sie sich derart kasteite, überkam sie das berauschende Gefühl, wichtig zu sein.
9
Es war noch nie eine geniale Idee gewesen, zum Arbeitsamt zu gehen, das hatte er schon gewusst, bevor er aufbrach. Er tat es jedoch auf Rasks Wunsch hin, der einen detaillierten Plan entworfen hatte, wie man Ninos wieder in die Gesellschaft eingliedern konnte. Sein früheres Leben als Selbstständiger, oder auch »Unternehmer«, wie Rask es genannt hatte, sei nach einem Unfall mit langer Rehabilitationszeit nicht zu empfehlen, bei einem Verwandten zu arbeiten noch weniger ratsam, weil es hier offenbar keine festen Arbeitszeiten gab.
Eine gewöhnliche Arbeit, hatte Rask erklärt, wäre viel besser für Ninos geeignet. Normale Arbeitszeiten, Kollegen, festgelegte
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