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Die Wohltaeter

Titel: Die Wohltaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nuri Kino Jenny Nordberg
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dem er nicht in der Lage war? Sie wusste auch, wie die meisten anderen Menschen lebten, aber das schien ihr nicht sonderlich verlockend. Jesse bot ihr nicht nur die Welt dar, sondern auch eine Aufgabe. Und er hatte sie nie zu etwas gezwungen. Es war ihre eigene Wahl.
    Sie nahm ihre dunkle Sonnenbrille ab und ging durch die Tür, die man ihr aufhielt. Zwanzig Köpfe wandten sich ihr zu. Neunzehn plus Jesses. Sie rief sich in Erinnerung, dass sie ihn von nun an vor den anderen Møller nennen musste.
    In dem Raum befanden sich zehn Männer und zehn Frauen. Mit ihr waren es elf. Sie kannten einander nicht mit Namen und wussten nicht, welche Nationalität die anderen hatten, aber dennoch herrschte ein tiefes Einverständnis zwischen ihnen. Møllers Gesicht war warm und liebevoll, von den Gesichtern der anderen konnte sie jedoch keinerlei Reaktion ablesen. Sie sahen sie geradeheraus an.
    Sie verspürte ihnen gegenüber Demut. Sie wollten eine Führung und benötigten sie, es war ein würdiger Auftrag. Dies war das einzige Mal, an dem alle Anwesenden zusammentreffen würden. Sie hatten sich untereinander nie zuvor gesehen, wohingegen sieselbst jedem Einzelnen von ihnen bereits zu einem früheren Zeitpunkt begegnet war. Nach dem Meeting würden sie hinausgehen und in separaten Autos zum Flughafen gefahren werden, damit niemand die Möglichkeit hatte, dem anderen zu folgen. Es würde viele Stunden dauern, bis alle aufgebrochen waren. Sie begrüßte diese Prüfung. Sie waren ihretwegen hier.
    Die Zusammenkunft fand an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag statt. Sie war Kind ihrer Mutter, sie war diejenige, die die Organisation weiterführen sollte, und sie war Jesses Erbin. Alle wussten das.

22
     
     
    Das Gebäude der Morgenzeitung lag auf den Essingeinseln, nur wenige Minuten Fahrzeit von Ninos’ Wohnung entfernt. Er war nicht gerade in Form, um Auto zu fahren, aber es war dennoch ein besseres Gefühl, als mit dem Bus unterwegs zu sein.
    Er holte tief Luft, streckte seinen Bauch heraus und zog ihn wieder ein. Dann ging er durch die Schiebetür.
    Im Foyer saßen einige Rentner auf einem roten Kunststoffsofa und lasen Zeitung. Ninos selbst hatte die Morgenzeitung zwei Wochen lang gelesen und alle Wörter, die er nicht verstand, in ein Notizbuch geschrieben, das Ingrid später dechiffrieren musste. Nun galt es, passende Gelegenheiten zu finden, sie anzuwenden. Er versuchte, seine Lust zu zügeln, sie in jeden zweiten Satz einzubauen.
    An der Rezeption wurde Ninos nach oben zur Redaktion durchgelassen. Dort stand er eine Weile ruhig da und blickte hinaus auf die Landschaft, während er darauf wartete, empfangen zu werden. Offenbar sprach hier niemand mit dem anderen. Er hatte sich eher einen chaotischen Ort vorgestellt, der Gaststätte nicht unähnlich, wo die Menschen mit Papier in den Händen und Stiften hinterm Ohr durch die Flure rannten und diskutierten oder sich gar zankten. Aber es war vollkommen still, bis auf die Telefone, die diskret surrten, oder ein vereinzeltes Piepsen der Faxgeräte. In einer Ecke hing ein Fernseher an der Wand und zeigte Explosionen und die Sprechbewegungen sorgfältig bemalter Lippen. Überall waren Menschen, aber die einzigen Geräusche, die sie von sich zu geben schienen, war das Geklapper der Tastaturen, auf die sie mit den Fingerspitzen einhieben.
    »Sigge Strömmer. Wir haben miteinander telefoniert.« Der Mann, der auf ihn zugekommen war, sah nicht aus wie ein Chef, fand Ninos, aber er leitete das Ressort namens Inland .
    Redakteur Strömmer war in den Vierzigern. Er trug einen Rollkragenpullover und Jeans, eine schmale Brille mit Metallgestell und einen struppigen Bart. Ninos kam sich in seinem Anzug mit einem Mal affig vor. Obendrein trug er den Bulgari-Ring aus der Boutique seiner Cousins in Istanbul, mit dem er sich an dem Tag, als er sein richtiges Geburtsdatum erfahren hatte, selbst gratuliert hatte.
    Strömmer führte ihn in einen kleinen, stickigen Raum, der durch eine Glaswand von der Redaktion getrennt war. Darin stand ein birkenholzfarbener Konferenztisch mit einigen Stühlen rundherum. An dem Tisch saß bereits eine Frau, auch sie trug eine Brille, von deren Bügeln jedoch rechts und links das Ende einer Goldkette herunterbaumelte. Er beugte sich zu ihr herab und begrüßte sie. »Marie-Louise«, stellte sie sich mit tonlosem, schonischem R vor und streckte ihm ihre dürre Hand entgegen. Ninos erwiderte ihren Händedruck und setzte sich neben sie. Vor ihnen auf dem Tisch stand

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