Die Wolke
Janna-Berta ein, dicht an die Gebäudewand gepreßt stehenzubleiben. Dann kletterte er über die Mauer wieder hinaus.
Bundesgrenzschutzleute drängten sich durch die Menge auf dem Bahnsteig und postierten sich vor der Innenseite der Mauer. Sie ließen niemanden mehr vom Bahnhofsvorplatz herüberklettern. Janna-Berta hörte das Angstgeschrei, die Protestrufe der Menge, die sich von der Rettung abgeschnitten sah. Sie glaubte sogar, Berts Stimme herauszuhören. Die kleine Annika auf ihrem Arm schrie wie am Spieß, ihr erschien wohl Janna-Bertas Gesicht fremd und bedrohlich. Nina klammerte sich an Susanne, Susanne an Janna-Berta. Das Gedränge auf dem Bahnsteig wurde immer dichter. Es mußte noch andere Durchschlüpfe geben. Immer wieder stießen ausladende Rucksäcke und breite Rücken gegen Annikas Kopf. Janna-Berta kauerte sich nieder, um das Kind zu schützen. Auch Nina und Susanne hockten sich hin, mit dem Rücken zur Wand, die Knie unterm Kinn. Eine Frau stolperte über die Kinder und fiel auf Janna-Berta. Vor Schreck schrie jetzt auch Nina und rief nach ihren Eltern. Janna-Berta stand wieder auf. Verzweifelt schaute sie hinüber zur Mauer. Wann kamen die Heublers endlich? Ließen die Uniformierten sie nicht über die Mauer?
Dicht an Janna-Berta vorbei kämpfte sich ein Bahnbeamter durch das Gedränge. Die Wartenden bestürmten ihn mit Fragen.
»Der Intercity aus München?« antwortete er einer Frau. »Na, Sie sind gut. In Hünfeld ist die Strecke blockiert, ein Intercity ist auf einen Triebwagen aufgefahren. Außerdem ziehen die einen Absperrungsgürtel um die ganze Schweinfurter Gegend. Da fährt kein Zug mehr durch. Ist ja alles schwer verseucht.«
»Und wir?« schrien ein paar Stimmen gleichzeitig.
»Von Bebra schicken sie Züge her«, antwortete er und versuchte weiterzukommen. »Der nächste fährt gleich ein.«
»Ich hab einen gehbehinderten Mann!« jammerte eine Frau und hielt den Bahnbeamten am Ärmel fest. »Ich hab ihn bis vor den Bahnhof geschoben. Wie soll ich ihn durch das Gedränge hereinschaffen?«
Der Mann hob die Schultern, riß sich los und rief: »Sie müssen Ruhe bewahren – sonst geht gar nichts mehr!«
Die neuen Nachrichten verbreiteten sich auf dem Bahnsteig in Windeseile. Janna-Berta dachte an ihre Mutter. Und an Kai, der nicht viel älter war als Annika auf ihrem Arm. Waren sie noch herausgekommen, oder saßen sie jetzt in der Falle? Und Jo?
Plötzlich reckten sich alle Köpfe, alle Gesichter wandten sich nach Norden: Ein Güterzug rollte rückwärts in den Bahnhof ein: teils offene Pritschenwagen, teils Viehwaggons. Die Wartenden schrien und drängten vorwärts. Janna-Berta wurde mit den Kindern von der Wand weggeschoben, vor die Mauer, hinter der das Geschrei am größten war. Während sie mitgerissen wurde, dem Zug entgegen, schrie sie zur Mauer hinüber: »Kommt doch, bitte kommt doch!« und versuchte sich vergeblich an den Familiennamen der drei kleinen Mädchen zu erinnern. »Bitte!«
Sie sah noch, daß von außen zahllose Hände die Gitterstäbe des Tors in der Mauer umklammert hielten und daran rüttelten. Von innen stemmten sich die Männer vom Bundesgrenzschutz dagegen. Es knirschte, Eisen dröhnte an Eisen. Dann verlor sie das Tor aus dem Blick. Die Kinder schrien vor Angst. Sie wurden gestoßen und geschubst.
»Haltet euch an mir fest«, rief Janna-Berta. »Nicht loslassen! Mutti und Vati kommen gleich.«
Die erste, die sie verlor, war Nina. Ihr Jammergeschrei ging im Lärm der Menge unter. Nur noch ein schrilles »Susanne!« war zu hören.
Dann ließ Susanne los – und schon war sie zwischen Koffern und Beinen und Röcken verschwunden. Janna-Berta preßte Annika an sich, rief die Namen der Kinder und stemmte sich gegen den Strom. Sie erhielt Püffe und wurde beschimpft. Sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Vom Tor her tönten rhythmische Rufe: »Hau ruck! Hau ruck!«
In dem verzweifelten Bemühen, irgendwo die blonden Schöpfe der Kinder zu entdecken, drehte sich Janna-Berta um sich selbst. Da sah sie, wie sich auf einmal das Tor öffnete – aufgedrückt von außen. Die Menge brandete herein. Wer ihr im Weg stand, wurde überrannt. Ein Wirbel bildete sich dort, wo eben noch Ninas Rufe hergekommen waren. Menschen schlugen um sich, stürzten, rappelten sich auf, traten auf andere, die noch lagen. Janna-Berta gelang es, sich zurückzuretten an die Wand, wo sie vorher gestanden hatte. Und schon stürzten die Heublers auf sie zu. Sie rang noch nach Atem,
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