Die Wundärztin
Ablenkung. Als spürte sie das, hielt die Maus inne, blinzelte und schnupperte. Die langen Barthaare zitterten, sie schürzte ihre spitze Nase. Blitzschnell sank sie in sich zusammen und huschte weiter durchs Gras, schlüpfte in ein Loch, um sich vor ihnen zu verbergen.
»Schade, dass du immer noch nicht begreifen willst, worum es wirklich geht.« Rupprechts Stimme klang heiser. Er räusperte sich. »Englund streckt auch dir die Hand zur Versöhnung aus. Vergiss also, was im Kloster war, und sieh endlich, dass er dir helfen will.«
»Ich kann das nicht so einfach vergessen, Rupprecht, selbst wenn ich es wollte.« Sie zupfte ihn am Arm, damit er sich ihr wieder zuwandte. Eindringlich blickte sie ihm in die Augen, froh, dass sie beide sich wenigstens auf gleicher Höhe gegenüberstanden. »Allein schaffe ich es nicht. Hilf mir, bitte!«
Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie tief seine Augenhöhlen im Kopf lagen, wie dick der Wulst der Augenbrauen sich darüberwölbte. Kein Wunder, dass so wenig von dem Schimmer darin sichtbar war. Nase und Kinnpartie stachen ebenfalls weit heraus und verliehen seinem Gesicht etwas Mausartiges, nicht eben vorteilhaft für einen Mann. Auf den ersten Blick hatte er so gar nichts Anziehendes. Auf einmal aber wusste sie wieder, wie wichtig er ihr war: Ihr ganzes bisheriges Leben war er immer da gewesen, wenn sie Hilfe brauchte! Sie schluchzte auf. Nach Roswithas furchtbarem Tod, der Trennung von Meister Johann und ihrem geliebten Kind blieb ihr wirklich nur noch Rupprecht.
»Willst du das wirklich?« Aufmerksam sah er sie an.
»Ja«, antwortete sie zögernd. Ein zarter Lufthauch kitzelte ihre Nase. Sanft strich Rupprecht über ihr rotes Haar, legte die Hand auf ihre Schulter und zog sie an sich.
»Es wird alles wieder gut. Mach dir keine Sorgen.«
Ein Sonnenstrahl streifte ihr Gesicht. Er fiel durch eine Lücke im Blätterdach, das sich über ihnen wölbte. Die Helligkeit machte sie blinzeln, gleichzeitig genoss sie die unerwartete Wärme.
»Auf geht’s!«, rief einer der bewaffneten Männer, die zu den Kaufleuten gehört. Ehe sie sich versah, fasste er Magdalena um die Taille und setzte sie wieder auf den Wagen. Rupprecht nickte ihr beruhigend zu.
18
Elsbeth wusste nicht, wie viele Tage seit ihrer Ankunft vergangen waren. Die Zeit schien ihr wie ein regelmäßiger, nicht enden wollender Wechsel von Hell und Dunkel. Anfangs plagte der Körper sie noch fürchterlich, dann ließ das Glühen nach, auch der Schüttelfrost wurde besser. Die Übelkeit verschwand, sie konnte aus einem Napf mit Brühe trinken, sogar erste Bissen Brot bei sich behalten. Endlich nahm sie die hellen Zeiten besser wahr, hielt die Augen länger offen. Bald unterschied sie die Umrisse um sich herum. Sie lag in einem Bett in einer schmalen Kammer. Durch das Fenster oberhalb des Kopfendes fielen bei gutem Wetter morgens schon die ersten Sonnenstrahlen und tauchten die wenigen Gegenstände in ein sanftes Licht: ein Tisch mit zwei Schemeln an der gegenüberliegenden Längsseite, eine bunte Truhe am Fußende. Über der Tür hing ein Kreuz, zuerst noch mit Veilchen und Kornblumen geschmückt. Inzwischen fanden sich die runden, dunkelroten Blütenköpfe der Astern darunter. Das Laub an den Zweigen dazwischen färbte sich bunter, untrügliches Zeichen, dass der September nahte.
Meist kamen Berta oder eine alte Magd mit einem verdrießlichen Gesicht, um Brühe oder Brot zu bringen. Dass die Hausfrau Berta hieß, hatte sie aus den Unterhaltungen in der angrenzenden Stube aufgeschnappt. Oft tönte ihre befehlsgewohnte Stimme herüber, respektvoll führten die Männer ihren Namen im Mund. Außer den beiden Frauen bekam Elsbeth keinen der Hofbewohner zu sehen.
Gelegentlich stolperte Carlotta herein. Über dem Aufenthalt auf dem Gehöft waren ihre Schritte schneller und sicherer geworden, das Unbeholfene ihrer Bewegungen hatte sich fast ganz verloren. Wenn Elsbeth sich anstrengte und die Augen zusammenkniff, konnte sie das Gesicht der Kleinen besser erkennen. Die Nasenflügel zeichneten sich feiner als ehedem ab, das Kinn ragte spitzer aus dem runden Gesichtchen hervor. Sie hatte kaum mehr etwas mit dem Säugling gemein, der noch vor gar nicht langer Zeit an ihrer Brust gelegen hatte. Die blauen Augen strahlten kräftiger, die rotblonden Locken weckten Erinnerungen an goldene Ähren, die auf den Feldern wogen. Dass Berta sie gut verpflegte, las Elsbeth an Carlottas dicken Apfelbäckchen und den stämmigen Beinchen ab.
Weitere Kostenlose Bücher