Die Wundärztin
Hände auf die Schultern und drückte sie an sich. »Was täte ich nur ohne euch? Gehilfen wie ihr sind ein wahrer Glücksfall!«
Stolz über das Lob, lächelte Magdalena, während Rupprecht weiter schwieg.
»Lasst uns weitermachen. Der Nächste wartet schon«, sagte der Meister und deutete mit dem Kopf auf den Tisch, auf den einer der Helfer den nächsten Verwundeten gelegt hatte. »Willst du dieses Mal ran, Rupprecht? Ich muss mir kurz die Finger wärmen.«
6
Mitten in dem üblichen Tumult im Lazarett erhob sich draußen vor dem Gehöft plötzlich ohrenbetäubender Lärm. Selbst die verzweifelten Schmerzensschreie wurden übertönt. Die Tür schwang auf, und jemand brüllte: »Die Franzmänner kommen!«
»Rette sich, wer kann!«, schrie einer der Feldscher. Im nächsten Moment gab es kein Halten mehr. Wie auf Kommando ließen die Wundärzte die Instrumente fallen, die Helfer ließen die Verwundeten los. Jeder, der noch in der Lage war, auf eigenen Beinen zu stehen, erhob sich und versuchte, aus dem Bauernhaus zu fliehen. Ein rücksichtsloses Schieben und Drängen begann. Das Einzige, was zählte, war, den eigenen Kopf zu retten. Weil es viel zu wenige und nur schmale Türen gab, entbrannte ein heftiger Kampf darum, nach draußen zu gelangen. Schließlich schlug jemand die Fenster ein, um auch durch diese Öffnungen fliehen zu können.
»Lass mich durch, du Hundsfott!«
»Scher dich zum Teufel, du alte Vettel!«
»Aus dem Weg, du Hurensohn!«
»He! Wer wird einen alten, hilflosen Mann über den Haufen rennen wollen?«
Tische stürzten um, Holz zersplitterte, Balken barsten, Tontiegel sprangen entzwei. Manch einer benutzte den Nächstbesten, um mit dem Stiefel auf ihn zu steigen und aus dem Fenster zu klettern.
Starr vor Entsetzen verfolgte Magdalena das Geschehen. Längst hatte sie in dem Getümmel Meister Johann und Rupprecht aus den Augen verloren. Verwirrt versuchte sie, einem Mann, der lediglich an der Schulter verletzt war, von einem der Tische zu helfen und ihn zur Tür zu geleiten. Immer wieder blickte sie sich verzweifelt um. Wo waren der Feldscher und Rupprecht hin? Nachdem sie den Verwundeten mit Mühe nach draußen gebracht hatte und sich dem nächsten Hilfsbedürftigen zuwenden konnte, erspähte sie aus den Augenwinkeln, dass Meister Johann weiter hinten im Raum Gleiches tat. Gewiss versuchte auch Rupprecht, denen, die noch zu retten waren, gegen die rücksichtslosen Kameraden beizustehen. Wie vielen sie letztlich auf die Beine und ins Freie geholfen hatte, hätte Magdalena irgendwann nicht mehr zu sagen vermocht. Es schien ihr eine Ewigkeit, seit die Tür aufgeflogen und das Chaos ausgebrochen war. Irgendwer musste schließlich einen der Tische ins prasselnde Kaminfeuer gestürzt haben. Blitzschnell griffen die Flammen auf das Holz über. Wie gebannt starrte Magdalena auf die Feuerstelle. Ihre Kräfte schwanden, ihr wurde schwindelig, in den Ohren rauschte es. Das lang verdrängte Bild aus dem brennenden Magdeburg schob sich vor ihre Augen: unzählige fliehende Menschen, die nackte Angst, nicht mehr lebend davonzukommen. Sie kniff die Lider zusammen, umklammerte den Bernstein auf der Brust und begann inständig zu beten.
»Magdalena!« Aus weiter Ferne drang eine wohlbekannte Männerstimme schwach an ihr Ohr. Der Tonfall klang vertraut. Viel zu vertraut, wie sie im nächsten Augenblick mit Schrecken feststellte.
»Magdalena!«, hörte sie noch einmal. Kein Zweifel: Die Stimme gehörte einem geliebten Menschen. Allmählich erwachte sie aus ihrer Starre, öffnete vorsichtig die Augen und blinzelte ins Halbdunkel. Grausig war der Anblick, der sich ihr bot. Sie wusste nicht, wie lang sie so dagestanden und um Beistand des Allmächtigen gefleht hatte. Einzig die Kraft des Bernsteins hatte sie gespürt. Um sie herum war es still und leer geworden. Der brennende Tisch war in sich zusammengefallen. Dank der festen Ummauerung des Kamins und des Steinbodens hatte das Feuer nicht weiter um sich greifen können. In der Stille aber hörte sie außer dem ruhigeren Prasseln des niedergebrannten Feuers immer wieder diese schwache, geliebte Stimme, die ihren Namen rief.
Das Innere des Bauernhauses war völlig verwüstet, die Türen aus den Angeln gerissen, selbst die Fensterläden zerstört. Bis auf die Toten und Sterbenden befand sich außer ihr niemand mehr in dem behelfsmäßigen Lazarett. Die Franzmänner aber waren auch nicht gekommen. Das Stöhnen um sie herum wurde leiser. Einer weinte und rief
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