Die Wundärztin
Linden. Ein bunter Laubteppich ließ sich vom leichten Wind über den Boden treiben. Der Herbst zeigte sich in den letzten Wochen von seiner besten Seite. Kaum brauchte man Wolltücher und Mäntel. Der Frost hatte es nicht eilig, sein eisiges Klirren anzustimmen. Nach mehreren Jahren mit kalten, nassen Sommern und viel zu frühen Wintereinbrüchen schien es dieses Jahr möglich, dass der Schnee erst weit nach dem Tag der heiligen Barbara vom Himmel zu rieseln begann. Auf den Berggipfeln im Süden fand sich noch keine Spur von Weiß. Stattdessen leuchtete im Sonnenlicht überall auf den Wiesen und Wäldern ein sattes Gelbrot.
Unruhig trippelte Magdalena auf den Füßen und reckte den Hals, um besser über die Köpfe der Leute hinwegsehen zu können. Wieder trat ihr einer auf den Fuß, ein Zweiter verhedderte sich in ihren Armen, und eine Frau schimpfte: »Rückt halt zur Seite!« Das Gotteshaus füllte sich. Bald war kein Hineinkommen mehr. Die Ersten drückten sich bereits dicht an der Tür herum und schimpften laut, dass man drinnen mehr zusammenrücken und nicht so viel Platz für sich beanspruchen solle.
Magdalena atmete tief durch. Unwahrscheinlich, dass sie da noch hineinschlüpfen konnten, selbst wenn Rupprecht gleich um die Ecke schoss. Aus dem Innern der Frauenkirche verhieß ein Raunen das Auftauchen des Pfarrers. Der Introitus erklang. Wieder wandte sie sich der Menge auf dem Kirchplatz zu und versuchte zwischen den Leuten hindurchzuspähen. Von Rupprecht war weit und breit nichts zu sehen.
Gründlich musterte sie jeden, der an ihr vorbeiging, ob nicht einer darunter war, den sie kannte und nach ihm fragen konnte. Sicher waren auch Buxheimer zur Friedensmesse in die Stadt gekommen. Die Leute hatten ein feierliches Gesicht aufgesetzt. So leer letztens noch die Augen der meisten geschaut hatten, so verzweifelt so viele gewirkt hatten, so zart blitzten nun die ersten Hoffnungsschimmer darin auf, bei einigen war es bereits ein richtiges Leuchten. Keine Frage, dass es bald wieder besserging.
Dem Anlass entsprechend hielten die Leute auf ein würdiges Aussehen. Da hinten kam der Stadtschreiber mit seiner Frau in einem prächtigen Rock, an dem der Glanz der polierten Knöpfe die unzähligen Mottenlöcher im Stoff überstrahlte. Bald tauchte der Apotheker vom Markt mit seiner Mutter und der ältesten Tochter auf, die Frauen beide in reichbestickte Umschlagtücher gehüllt, an denen die bunten Flicken ein eigenes Muster ergaben. Kurz dachte Magdalena an den Freiburger Apotheker zurück. Ob er seine widerspenstige Tochter tatsächlich unter die Haube gezwungen hatte? Sogar die Hebamme vom Schrannenplatz humpelte herüber, ihren ausgefransten Wollrock stolz mit den breiten Hüften schwingend. Abermals fühlte Magdalena sich an einen lieben Menschen erinnert: Dass Roswitha das nicht mehr erlebte! Sie zwang sich, nicht ganz in der Trauer zu versinken. Entschlossen hob sie den Kopf und sah sich weiter um. Wie viele der Menschen aus Memmingen und Umgebung kannte sie inzwischen!
Seit dem Abzug der Schweden und Franzosen vor fast genau einem Jahr lebte sie unter ihnen. Dennoch schenkte ihr keiner der Näherkommenden sonderlich Beachtung. Die zierliche rothaarige Feldscherin mit den auffälligen grünen Augen blieb ihnen weiterhin nicht geheuer, sosehr sie ihre Heilkünste zu schätzen gelernt hatten und sie in allen erdenklichen Belangen um Rat zu fragen pflegten. Wäre doch Rupprecht endlich da, dann hätte sie wenigstens einen, der ihr beistand! Sie fühlte, wie das Zittern sie ergriff. Ob Rupprecht etwas zugestoßen war? Es war nicht seine Art, sie ohne Nachricht zu lassen. Das Glockenläuten wurde leiser, vielstimmiger Gesang erklang aus der Frauenkirche. Magdalena hielt es nicht mehr aus. Sie musste nachsehen. Vielleicht hatte ihr Hauswirt, der alte Peter, eine Nachricht erhalten.
Sie gab ihren Platz dicht beim Eingang zur Frauenkirche auf. So einfach aber war es nicht, von dort wegzukommen. Den immer noch in Scharen Heranströmenden musste sie sich nun mit aller Kraft entgegenstemmen, Ellbogen und Fäuste einsetzen, um sich einen schmalen Durchgang zu verschaffen. Bald erreichte sie den Schrannenplatz und kämpfte sich weiter vor bis zum Rossmarkt hinüber. In einer kleinen Seitengasse befand sich das Haus des Zimmermanns Peter Schab.
Als Magdalena um die Ecke bog, erstarrte sie. In der engen Gasse, die weiter westlich zum Lindauer Tor führte, herrschte reger Aufruhr. Dieses Mal allerdings rührte er nicht von
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