Die Wundärztin
den Massen, die zu Sankt Martin oder einer der anderen Kirchen wollten. Eine Staubwolke hing über der Gasse. Ein Geruch nach feuchtem Gestein, vermischt mit Staub und Moder, stieg ihr in die Nase. Ihr schwante Übles. Die Knie wurden ihr weich. Mehr stakste sie vorwärts, als dass sie noch richtig lief. »Lasst mich vorbei! Ich bin Feldscherin. Schnell, ich will durch«, rief sie immer wieder und schob und kämpfte sich nach vorn. Das seitliche Tor zum Hof stand offen. Die Menschen davor blickten ratlos. Etwas schien anders als sonst, benennen ließ es sich allerdings nicht.
Sie schob sich weiter. Seit nunmehr einem Jahr lebten Rupprecht und sie in dem längs zur Gasse stehenden Anwesen. Erst die blutigen Gefechte im vorigen Jahr hatten den dünnen, kahlköpfigen Peter die gesamte Familie gekostet. In seiner Trauer der Raserei nahe, war er froh gewesen, Rupprecht und sie bei sich aufnehmen zu können. Das verhinderte, dass das Haus und der angrenzende kleine Hof mit Scheune und Hinterhaus auf einen Schlag leer und still wurden – und er selbst gänzlich verrückt, wie er seither immer wieder betonte.
Still aber wurde es in diesem Augenblick, da Magdalena den Hof betrat, mucksmäuschenstill wie niemals zuvor. Alles schien von einer weißlichen Staubschicht überzogen, die nicht nur den bunten Herbst überdeckte, sondern auch alle Geräusche im Ansatz erstickte.
Es mochten etwa ein halbes Dutzend Leute sein, die im Hof standen. Allesamt kehrten sie die Rücken zur Straße, umstanden in einem Halbkreis einen kniehohen Haufen Schutt. Keiner sagte etwas, alle starrten zu Boden.
»Was ist passiert?« Magdalenas Stimme zitterte. Statt einer Antwort traten die Menschen wie auf Kommando auseinander und sahen sie an. Kurz streifte ihr Blick die erschrockenen Gesichter. Rasch bildete sich eine Gasse bis zu dem kleinen Schuttberg. Später war ihr, als hätte sie da schon geahnt, was sie erwarten würde. Langsam wanderte ihr Blick hinüber.
Die brusthohe Mauer zum angrenzenden Grundstück auf der rechten Seite war eingestürzt. Schon seit Tagen war der Mörtel herausgerieselt, und einige Steine hatten sich gelockert. Gestern erst hatte Rupprecht mit dem alten Peter darüber gesprochen. »Wenn erst mal Frieden ist«, hatte der gemeint, »dann bauen wir die Mauer wieder ordentlich auf.«
Jetzt war Frieden. Und die Mauer umgefallen.
Noch einmal holte Magdalena Luft. Sie wusste, dass sie viel Kraft brauchen würde, um das Kommende zu ertragen. Dann erst sah sie zu Boden.
Dort unten lag Rupprecht, der Körper halb verschüttet von einem Haufen schwerer, unbehauener Steine.
2
Magdalena wusste später nicht mehr, ob sie seinen Namen vor Entsetzen laut geschrien oder nur still gedacht hatte. Sie wusste auch nicht, wie sie schließlich neben ihm zu sitzen kam. Als sie endlich einigermaßen klar denken konnte, fand sie sich auf der Erde, Rupprechts Kopf auf ihre Schenkel gebettet. Seine schwarzen Locken waren weiß von Staub und Mörtel. Die dunklen Augen stachen aus dem blassen Gesicht. Aus einer Wunde an der Stirn rann Blut, ein schmaler, roter Faden zog sich aus dem linken Mundwinkel das Kinn hinunter. Schwerfällig hob und senkte sich sein Brustkorb. Wenigstens hatten Peters einarmiger Geselle und der schüchterne Lehrjunge inzwischen die Steine von seinem Bauch genommen. Magdalena genügte jedoch ein Blick, um zu wissen, dass sie nichts mehr tun konnte, als neben Rupprecht zu sitzen, seine Hand zu halten und zu warten, bis es zu Ende ging.
Ruhe erfüllte sie. Tief in ihr schloss sich ein Kreis. Woher dieses Gefühl kam, konnte sie sich nicht erklären, aber es half ihr, die nächsten Stunden zu ertragen.
»Hier, nimm das.« Peters Nachbarin von der linken Hofseite brachte ihr eine Decke und legte sie ihr über die Schultern. Fast zärtlich ruhten die Hände einen Augenblick länger als nötig auf ihr. Magdalena drückte sie dankbar. »Danke«, sagte sie und rang sich ein Lächeln ab. Die Augen der Nachbarin waren voller Tränen. »Ausgerechnet jetzt! Nach allem, was überstanden ist.« Sie schüttelte den Kopf, schluchzte auf und ging.
Der Mann, zu dessen Grundstück hin die Mauer errichtet gewesen war, kam mit einem Branntweinschlauch. »Hier«, stieß er nur aus. Kaum wagte er, den Blick zu heben und sie anzusehen. Sein schlechtes Gewissen machte ihm zu schaffen. Gern hätte sie ihn beruhigt. Seine Schuld war es nicht, dass der alte Peter die Mauer noch nicht instand gesetzt hatte. Das laut zu sagen, brachte sie
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