Die Wundärztin
klein zu halten. Nicht nur von dem alten Feldscher Ludwig, den sie damals in Königsberg getroffen und der sie offenbar an Lindström verraten hatte, war sie enttäuscht worden. Oft erreichten sie nur unzulängliche, mitunter schlichtweg falsche Mitteilungen. Vor anderthalb Jahren war der schwedische Hauptmann Englund beim Kampf um Landsberg gefallen. Seither war die Verbindung zu denjenigen, die ihn gelegentlich mit verlässlichen Nachrichten versorgt hatten, komplett abgerissen. Rupprecht versuchte zwar immer wieder – wie an diesem Morgen in Buxheim – Soldaten, Kaufleute und Reisende auszufragen. Entweder aber besaß er wenig Geschick, die Leute zum Reden zu bringen, oder sie wussten tatsächlich nichts zu erzählen. Das Einzige, was unstrittig war, lautete: Magdalenas Mutter Babette saß weiterhin in Köln. Zwar war der kleine Fritz gestorben, doch die Mutter hatte das offenbar gut verkraftet und ging ganz in der Sorge um den Haushalt ihres Bruders auf. Von Elsbeth und Magdalenas geliebter Tochter Carlotta fehlte dagegen jede Spur, und auch über Eric war nichts in Erfahrung zu bringen gewesen. Nicht einmal, ob Meister Johann noch im Tross der Kaiserlichen unterwegs war, hatte Rupprecht herausgefunden. Mehr als anderthalb Jahre schon wusste Magdalena kaum mehr, als dass auf jede dunkle Nacht ein weiterer Tag folgen würde. Umso inständiger hoffte sie, dass auch auf ihre finstere Ungewissheit irgendwann wieder ein Licht fiel.
»He, du, bist du zur Salzsäule erstarrt?« Ein rundlicher Mann in einer fadenscheinigen Jacke und weit aufgeplusterten Hosen zerrte sie beiseite. Die rote Feder an seinem Hut wirkte arg gerupft, die Binde an seinem Arm von den langen Kriegsjahren ausgeblichen. Dennoch trug er die Zeichen seines Fähnleins bis zu diesem Tag mit Stolz. Magdalena erwachte wie aus einem Traum. Das harte Pochen auf dem Pflaster verriet, dass jemand mit einem Holzstumpf dicht an ihr vorbeihumpelte. Der Dicke beachtete ihn nicht, denn er hatte es viel zu eilig, in die Kirche zu gelangen, als dass er sich damit aufgehalten hätte, auf andere Rücksicht zu nehmen. Nachdenklich sah Magdalena ihm hinterher, bis er in der Menge verschwand. Ihr Vater wäre inzwischen im selben Alter. Sie wischte sich über die Augen.
Ob er sich auch so aufgebracht zum Friedensgottesdienst gedrängt hätte? Und was war mit Meister Johann? Hatte wenigstens er überlebt und drängte gerade irgendwo zur Kirche? Nein, mit der Kirche hatte er es nie sonderlich gehabt. Andererseits waren über zwei Jahre vergangen, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte. Längst konnte er sich bekehrt haben. Bekümmert dachte sie an Roswithas furchtbaren Tod. Vielleicht hatte Meister Johann dadurch zum Beten gefunden, wollte die arme Seele der alten Hebamme erlösen. Tränen stiegen ihr in die Augen. Warum weinte sie immerzu? Dabei war doch eigentlich ein Tag der Freude.
Schon stand sie der Nächsten im Weg. »Lass mich vorbei!«, schimpfte dieses Mal eine Frau, deren rechtes Auge fehlte. Notdürftig verdeckte ein quer über das Gesicht gebundenes Tuch das Loch. Als sie den Arm hob, um Magdalena wegzuschieben, stach eine große Lücke an der Hand ins Auge. Dort fehlten zwei Finger. Die Ärmste hatte es in den letzten Jahren wohl schlimm erwischt. Ein weiteres Mal sandte Magdalena ein stilles Dankgebet gen Himmel, so glimpflich davongekommen zu sein. Nur Carlotta fehlte. Gleichzeitig mit dem Schmerz stieg auch ein Gefühl von Trotz in ihr auf. Sie würde ihr Kind finden, daran durfte sie nicht zweifeln. Jetzt, da endlich Frieden herrschte, konnte sie es wagen, sich wieder auf die Suche zu machen. Erste Erkundigungen bei den Kaufleuten einzuholen, dazu war Rupprecht gestern schließlich nach Buxheim gegangen. In wenigen Stunden wüsste sie mehr.
»He!« Wieder stieß sie jemand herum. Sie musste aufpassen, nicht zu weit von ihrem Standort abgedrängt zu werden. Aus sämtlichen Dörfern und Weilern der Region strömten die Massen herbei. Aus allen Gassen und Türen, Löchern und Verstecken krochen sie hervor. Groß und Klein, Jung und Alt, Evangelisch wie Katholisch begleiteten einander, um Gottes unermesslicher Güte für den endlich erfolgten Friedensschluss Dank zu zollen. Selbst das Wetter feierte auf seine Weise den langersehnten Freudentag. Mitten im November strahlte die Sonne frühlingswarm vom Himmel. Eine sanfte Brise strich über die Dächer der Stadt und kräuselte das Wasser im Stadtbach. Hie und da behauptete sich noch ein gelbes Blatt in den
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