Die Wundärztin
nicht zuwege. Matt schüttelte sie den Kopf. Branntwein würde sie nie mehr im Leben anrühren, das hatte sie sich damals im Kloster bei Würzburg geschworen. Den Beschluss aufzugeben wäre ihr Ende, das wusste sie. Sie fasste fester um Rupprechts Finger, prüfte, ob er den Druck spürte und noch erwidern konnte. Er öffnete die Augen.
»Wenigstens für ihn.« Hilflos nickte der Mann in Richtung Rupprecht. Sie wiederholte ihr Kopfschütteln. Er hatte noch nie getrunken. In den letzten Augenblicken auf Erden musste er das Versäumnis nicht mehr nachholen. Mit gebeugtem Rücken wandte der Nachbar sich ab. Der alte Peter legte ihm den Arm um die Schultern. Bislang hatte er es nicht fertiggebracht, sich aus dem Kreis der Neugierigen zu lösen und zu ihr zu treten. Auch jetzt wich er ihrem Blick aus. Gemeinsam mit dem Nachbarn von rechts schlurfte er wortlos davon. Erleichtert sah sie den beiden nach.
Noch immer erfüllte das Glockenläuten die ganze Stadt. Der Boden schien unter dem Tönen zu beben, in den schmalen Gassen und Winkeln verfing sich der Schall. Inzwischen mussten die ersten Gottesdienste beendet sein. »Drüben auf dem Markt gibt es Essen und Getränke«, raunte ein Mann seiner Frau zu. Magdalena meinte, in ihm den Leinenweber aus der Ulmer Vorstadt zu erkennen, dessen Kind sie letztens wegen Blattern behandelt hatte. »Die letzten Magazine der Schweden haben sie gefunden«, stimmte ein anderer zu und wandte sich ebenfalls zum Gehen. »Geschieht ihnen recht, den dreckigen Heringfressern!« Die Frau des Leinenwebers achtete gar nicht erst darauf, ob sie zu laut sprach. »So wie die uns reingelegt haben, nur weil der Kurfürst aus München allein mit denen hat Frieden machen wollen! Nie haben sie kapiert, dass wir mit den Bayern nichts am Hut haben.«
»Komm, lassen wir das!« Ungeduldig trippelte ihr Mann von einem Fuß auf den anderen. Die Äußerungen seiner Frau bereiteten ihm Unbehagen. »Jetzt ist Frieden sowohl mit den Bayern als auch mit den Schweden und den Franzosen. Feiern wollen wir alle miteinander. Die Bäcker haben Brot gebacken, Wein und Bier soll es auch geben.«
Die drei verließen als Letzte den Hof. Das Grölen und Singen draußen auf den Straßen wurde lauter. Musiker zogen vorbei, schlugen die Pauken und stießen in die Fanfaren. An Magdalena rauschte das alles vorbei. Es kam ihr vor, als umgebe die Staubwolke der umgestürzten Mauer sie wie eine Hülle. Nur sie und Rupprecht fanden sich darunter. Als ahnte er ihre Gedanken, gab er einen unbestimmbaren Laut von sich, atmete auf einmal schneller und sah sie noch eindringlicher an.
»Der Stein.« Unter schweren Schmerzen presste er die Worte hervor. »Da, unter dem Hemd.« Jede einzelne Silbe bereitete ihm Mühe. Sie legte ihm den Finger auf die Lippen und bedeutete ihm zu schweigen. Behutsam strich sie die schweißnassen Haare aus seiner Stirn.
»Nimm!« Sein Blick bohrte sich noch tiefer in sie hinein. Sie verstand, wie wichtig es ihm war, dass sie ihm gehorchte, und tastete vorsichtig unter das Hemd. Sein Stöhnen bestätigte ihr, dass er die Berührung kaum ertrug. Bereits das sachteste Betasten bereitete ihm unerträgliche Schmerzen. Dennoch wollte er, dass sie es tat. Tränen verschleierten ihr den Blick. Sie schluckte. Dann hatte sie gefunden, was er wollte: den Bernstein. Ungläubig hielt sie ihn sich vor die Augen.
»Englund hatte den doch! Wie kommst du an ihn?« Vor Überraschung vergaß sie, dass er kaum sprechen konnte. Durch sein heftiger werdendes Atmen gab er ihr zu verstehen, sie solle ihre Vermutungen weiter äußern.
»Dir hat er ihn also zugesteckt.« Rupprecht nickte kaum merklich. Also sagte sie weiter: »Es muss im März letzten Jahres gewesen sein, kurz bevor er mit den Truppen nach Landsberg aufgebrochen ist. Zum letzten Mal haben die Schweden damals die Gegend geplündert, gebrandschatzt und zerstört, was den Winter davor noch überdauert hatte.«
Ihr Blick glitt in weite Fernen, als sie sich die Ereignisse von damals in Erinnerung rief. Rupprecht stöhnte. Wie gut sie noch alles wusste! Jedes einzelne Wort klang ihr im Ohr, jede Geste hatte sie vor Augen: Weil Englund im Spätsommer vor zwei Jahren, nach dem Aufbruch aus dem Würzburger Kloster, Lindström und die anderen allein nach Rothenburg vorgeschickt und mit Rupprecht, Ambrosius und ihr nach Königsberg in Franken geritten war, war er zwar später nicht wegen Fahnenflucht gehängt worden, allerdings stufte man ihn zum einfachen Soldaten zurück.
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