Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe
dann weiterhin auf allen Landzungen und Hügeln bis hinunter nach Leksand. Der Junge zählte mehr als hundert Feuer; er konnte ganz und gar nicht begreifen, wo sie hergekommen wären, und ob nicht Hexerei und Zauberkunst mit im Spiele sei.
Bei dem Schuß waren auch die Wildgänse erwacht, aber sobald Akka einen Blick auf den Strand geworfen hatte, sagte sie: „Die Menschenkinder treiben heute Kurzweil.“ Hierauf steckten alle Wildgänse die Köpfe aufs neue unter die Flügel und schliefen sogleich wieder ein.
Der Junge aber betrachtete die Feuer, die das ganze Ufer wie eine lange Reihe von goldenen Kleinodien schmückten, und wie eine Motte wurde er von dem Licht und der Wärme unwiderstehlich angezogen; er wäre gern näher hingegangen, aber er wußte nicht recht, ob er die Gänse ohne Gefahr verlassen könnte. Ein Schuß um den andern tönte zu ihm herüber, und da er jetzt wußte, daß keine Gefahr damit verbunden war, lockten ihn auch diese. Die Leute dort drüben bei den Feuern schienen so vergnügt zu sein, daß sie sich am Lachen und Jubeln nicht genügen lassen konnten, sie mußten auch noch Freudenschüsse abfeuern. Und jetzt wurden bei einem Feuer, das auf einem Berg brannte, überdies nochRaketen abgebrannt. Dort hatten sie ein riesiges Feuer, und es lag hoch droben; aber das war ihnen noch nicht genug, sie wollten es noch schöner haben. Bis hinauf in die Wolken des Himmels sollte man sehen, wie vergnügt sie wären.
Der Junge hatte sich ganz allmählich dem Ufer genähert; da drang plötzlich Gesang an sein Ohr, und jetzt hielt ihn nichts mehr zurück; er rannte dem Lande zu, da mußte er dabei sein.
Aus der Tiefe der Rättviker Bucht führt eine ungewöhnlich lange Dampfschiffbrücke ins Wasser hinaus; am äußersten Ende dieser Brücke stand eine Anzahl von Sängern, die in der späten Nachtstunde ihre Lieder über den See hinklingen ließen. Es war fast, als meinten sie, der Frühling schlafe, den Wildgänsen gleich, draußen auf dem Eise des Siljansees, und sie müßten ihn wecken.
Die Sänger huben an mit dem Lied: „Ich weiß ein Land weit droben im Nord!“ Dann kam: „Im Sommer gar schön, wenn die Erde sich freut, im Tal bei zwei Flüssen, den großen.“ Dann: „Der Marsch geht nach Tuna!“ Hierauf: „Freie, große, kecke Männer,“ und zum Schluß: „In Dalarna wohnten, in Dalarna wohnen“. Es waren lauter Lieder über Dalarna. Auf der Brücke selbst brannte kein Feuer, und die Sänger konnten nicht weit umhersehen, aber mit den Tönen tauchte vor ihnen und vor allen, die zuhörten, ihr Land auf, schöner und hinreißender, als wenn sie es beim Tageslicht gesehen hätten. Es war, als wollten sie den Frühling also anflehen: „Sieh, solch ein Land wartet auf dich! Willst du uns nicht zu Hilfe kommen? Willst du den Winter noch länger seinen Druck über diese wunderschöne Gegend ausüben lassen?“
Nils Holgersson lauschte dem Gesang unbeweglich bis zum Ende, dann erst eilte er dem Lande zu. Ganz drinnen in der Bucht war das Eis schon geschmolzen; es war aber hier so viel Sand angeschwemmt, daß der Junge ganz gut bis zu einem Feuer hingelangen konnte, das dicht am Uferrain lag. Vorsichtig, vorsichtig schlich er sich immer näher heran, bis er die Menschen, die neben dem Feuer standen oder saßen, sehen und auch hören konnte, was sie sprachen. Und wieder begann er sich über das, was sie sagten, zu verwundern und sich zu fragen, ob er nicht eine Spukerscheinung vor sich habe. Noch nie hatte er Menschen in solchen Anzügen gesehen. Die Frauen trugen schwarze spitzige Mützen auf dem Kopf, kleine weiße Pelzjäckchen, rosa Tücher um den Hals, grünseidene Leibchen und schwarze Röcke mit einem weiß, rot, grün und schwarz gestreiften Vorderblatt. Die Männer hatten runde Hüte mit niedrigem Kopf, blaue Röcke mit rot eingefaßten Säumen, gelbe Lederhosen, die bis an die Kniee reichten und von roten mit Quästchen gezierten Strumpfbändern festgehalten wurden. Der Junge wußte nicht, ob es nur von den Anzügen herkäme, aber er meinte, diese Menschen sähen ganz anders aus als an andern Orten: viel stattlicher und viel vornehmer. Er hörte, daß sie miteinander sprachen, konnte aber lange kein Wort verstehen. Da fielen ihm die schönen Kleider ein, die seine Mutter in ihrer Truhe verwahrte und die seit ewiger Zeit niemand hatte tragen wollen, und er fragte sich, ob er hier nicht am Ende Leute aus früheren Zeiten vor sich habe, Leute, die in den letzten hundert Jahren nicht
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