Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe
sie sich kaum denken, wie sie das aushalten sollten; sobald sie aber in die Sennhütten heraufgekommen waren, kam es ihnen vor, als sei dies doch ihre allerbeste Zeit.
Vor ein paar Sennhütten, die nahe beieinander lagen, waren die jungen Mädchen und Burschen zusammengekommen, einander zu begrüßen; es war also eine ziemliche Anzahl Menschen, die sich da auf der Wiese vor den Hütten niedergelassen hatten, aber eine rechte Unterhaltung wollte trotzdem nicht in Gang kommen. Die Burschen mußten am nächsten Tage wieder hinunter ins Dorf, und die Sennerinnen trugen ihnen noch allerlei kleine Bestellungen und Grüße an die Ihrigen daheim auf.
Da sah die älteste der Sennerinnen von ihrer Arbeit auf und sagte ganz lustig: „Es ist gar nicht nötig, daß es heute abend so still bei uns zugeht, denn wir haben ja zwei Burschen unter uns, die sonst gern etwas erzählen. Der eine ist Klement Larsson, der hier neben mir sitzt, und der andere Bernhard von Sunnansee, der dort drüben steht und nach dem Blackåsen hinaufschaut. Kommt, wir wollen sie bitten, daß jeder von ihnen eine Geschichte zum besten gebe, und wer die schönste Geschichte erzählt, dem verspreche ich das Halstuch hier, an dem ich eben stricke.“
Dieser Vorschlag fand großen Beifall; die beiden, die miteinander wetteifern sollten, machten natürlich zuerst Einwendungen, gaben aber bald nach. Klement bat Bernhard, den Anfang zu machen, und dieser hatte nichts dagegen. Er kannte Klement Larsson nicht genau, aber er meinte, von diesem könnte man nur irgendeine alte Geschichte von Gespenstern und Trollen erwarten; und da er wußte, daß die Leute so etwas gerne hörten, hielt er es fürs klügste, gleich selbst etwas derartiges zu wählen.
„Vor mehreren hundert Jahren,“ begann er, „geschah es, daß ein Propst von Delsbo hier in der Nähe in einer Neujahrsnacht mitten durch den dichten Wald ritt. In seinen dicken Pelz gehüllt und die Pelzmütze auf dem Kopf, saß er auf seinem Pferd, und an dem Sattelknopf hing ein Felleisen, in dem er den Abendmahlskelch, das Kirchenbuch und den Kirchenrock verwahrt hatte.Aus dem entfernten Filialdorf, weit drinnen im Walde, hatte man ihn zu einem Kranken gerufen; er hatte bis spät in der Nacht bei diesem gesessen und mit ihm gesprochen. Jetzt endlich war er auf dem Heimweg, aber er war überzeugt, daß er erst zu Hause ankommen werde, wenn Mitternacht längst vorüber sei.
Während er nun so durch den Wald dahinreiten mußte, zu einer Zeit, wo er sonst daheim in seinem Bette lag, war er froh, daß wenigstens kein schlimmes Wetter herrschte. Es war eine stille Nacht mit ruhiger Luft und überzogenem Himmel. Der Vollmond segelte groß und rund hinter den Wolken am Himmel und verbreitete eine gewisse Helle, obgleich er selbst nicht zu sehen war. Wenn das bißchen Mondlicht nicht geschienen hätte, wäre der Weg nur schwer von den Feldern zu unterscheiden gewesen; denn es war ja mitten im Winter, und alles hatte ein und dieselbe graubraune Farbe.
In dieser Nacht ritt der Propst ein Pferd, auf das er große Stücke hielt. Es war stark und ausdauernd und fast ebenso klug wie ein Mensch. Unter anderem konnte es von jedem Ort in dem ganzen Kirchspiel, es mochte sein, wo es wollte, den Weg nach Hause finden. Dies hatte der Propst schon mehrere Male erfahren, und er verließ sich so fest darauf, daß er nie mehr an den Weg dachte, wenn er dieses Pferd ritt. So kam er auch jetzt, mit lose herunterhängenden Zügeln und in seinen Gedanken weit weg, mitten in der grauen Nacht durch den wilden Wald dahergeritten.
Der Propst dachte an seine Predigt, die er am nächsten Tage halten mußte, und außerdem auch noch an vieles andere. Es dauerte eine gute Weile, bis er wieder auf den Weg achtete und sich fragte, wie weit er wohl jetzt gekommen sei. Als er dann schließlich aufschaute und sah, daß der Wald noch immer ebenso dicht war wie zu Anfang des Rittes, verwunderte er sich höchlich. Er war jetzt schon sehr lange geritten, eigentlich hätte er bereits an dem bebauten Teil des Kirchspiels angekommen sein müssen.
Es sah damals in Delsbo gerade so aus wie heute noch. Die Kirche und der Pfarrhof und alle großen Höfe lagen im Norden des Kirchspiels um Dellen her, während gen Süden nur Wälder und Berge waren. Als daher der Propst sah, daß er sich noch in der Wildnis befand, wußte er, daß dies der südliche Teil seines Kirchspiels war und er, um nach Hause zu kommen, also nach Norden hätte reiten müssen. Aber gerade
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