Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe
dies schien er nicht zu tun. Am Himmel leuchteten zwar weder Mond noch Sterne, nach denen er sich hätte richten können, aber der Propst war einer von denen, die die Himmelsrichtung im Kopf haben, und er hatte das bestimmte Gefühl, daß er gen Süden, vielleicht auch gen Osten reite.
Er war schon im Begriff, das Pferd zu wenden, besann sich aber dann anders. Das Pferd hatte sich noch nie verirrt und würde es gewiß auch heute nicht tun. Viel eher könnte er, der Propst, sich täuschen. Er war in tiefe Gedanken versunken gewesen und hatte des Weges nicht geachtet. So ließ er denn das Pferd in der bisherigen Richtung weitergehen und versank aufs neue in seine Grübeleien.
Aber gleich darauf traf ihn ein großer Zweig so heftig, daß er fast vom Pferde gefallen wäre. Da wurde ihm klar: jetzt mußte er untersuchen, wohin er eigentlich gekommen war; es half alles nichts.
Er betrachtete den Weg; er ritt über weiches Moos hin, wo kein ausgetretener Pfad zu erblicken war. Das Pferd aber schritt ohne jegliches Zögern rasch dahin. Doch gerade wie vorhin war der Propst auch jetzt überzeugt, daß es in der verkehrten Richtung vorwärts gehe.
Diesmal besann er sich nicht lange, ob er eingreifen solle. Er ergriff die Zügel, zwang das Pferd, umzudrehen, und es gelang ihm auch, es auf den Pfad zurückzuführen. Aber kaum waren sie da angekommen, als das Pferd einen Umweg machte und aufs neue geradeswegs in den Wald hineinlief.
Der Propst war seiner Sache so sicher, wie man einer Sache überhaupt sicher sein kann. ‚Aber wenn das Pferd so gar eigensinnig ist,‘ dachte er, ‚dann will es gewiß einen bessern Weg aufsuchen.‘ Und so ließ er es weitergehen.
Das Pferd kam gut vorwärts, obgleich es keinen gebahnten Weg vor sich hatte. Wenn ihm ein Berggipfel im Wege stand, kletterte es gewandt wie eine Geiß hinauf, und wenn es dann wieder bergab ging, stemmte es die Füße zusammen und rutschte die steilen Felsplatten hinunter.
‚Wenn ich nur wenigstens so zeitig nach Hause komme, daß ich die Kirche noch erreichen kann,‘ dachte der Propst. ‚Was würden meine Delsboer sagen, wenn ich nicht zu rechter Zeit zum Gottesdienst da wäre?‘
Er hatte nicht lange Zeit, darüber nachzudenken, denn plötzlich erreichte er einen Ort, den er wiedererkannte. Es war ein kleines dunkles Wasser, wo er im letzten Sommer gefischt hatte. Da merkte der Propst, daß er mit seiner Befürchtung recht gehabt hatte. Er befand sich tief drinnen im Walde, und das Pferd drang immer weiter gegen Südosten vor. Es schien sich ordentlich vorgenommen zu haben, seinen Herrn so weit wie nur möglich von der Kirche und dem Pfarrhause wegzutragen.
Rasch sprang der Propst aus dem Sattel. Auf diese Weise konnte er sich von dem Pferd nicht in die Wildnis hineintragen lassen. Er mußte nach Hause, und da das Pferd eigensinnig in verkehrter Richtung gehen wollte, beschloß er, zu Fuß zu gehen und das Tier am Zügel zu führen, bis sie auf bekannten Wegen angekommen wären. Er wickelte sich also die Zügel um den Arm, und die Wanderung begann. In dem dicken Pelz durch den Wald zu wandern, war freilich keine leichte Sache; doch der Propst war ein starker, abgehärteter Mann, der vor nichts zurückschrak. Aber bald machte ihm das Pferd neue Sorgen. Anstatt ihm zu folgen, stemmte es die Hufe fest auf den Boden und sperrte sich.
Da wurde der Propst zornig. Er schlug dieses Pferd sonst nie und wollte das auch jetzt nicht tun. Statt dessen warf er ihm die Zügel über den Hals und ließ es stehen. ‚Wir müssen uns hier wohl trennen, da du durchaus deinen eigenen Weg gehen willst,‘ sagte er.
Er war kaum ein paar Schritte gegangen, als das Pferd hinter ihmherkam, ihn vorsichtig am Rockärmel faßte und ihn zurückzuhalten versuchte. Der Propst wendete sich um und sah dem Tier in die Augen, wie um zu erforschen, warum es sich so sonderbar gebärdete.
Der Propst konnte eigentlich nicht recht begreifen, wie es möglich war, – aber soviel ist sicher: trotz der Dunkelheit sah er das Gesicht des Pferdes ganz deutlich, er konnte darin lesen wie in dem eines Menschen, und da begriff er plötzlich, daß sich das Pferd in einer fürchterlichen Angst und Unruhe befand; es warf seinem Herrn einen Blick zu, der flehend und vorwurfsvoll zugleich war. ‚Ich habe dir gedient und Tag um Tag nach deinem Willen getan,‘ schien es zu sagen. ‚Könntest du mir nun nicht in dieser einzigen Nacht nachgeben?‘
Der Propst wurde gerührt über diese Bitte, die er in
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