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Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe

Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe

Titel: Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selma Lagerloef
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vollständige Freistatt haben sollten. Dort waren die Seitenflügel mit der Gesindestube, der Vorratskammer und dem Stall, mit der Vesperglocke auf dem einen Giebel und der Wetterfahne auf dem andern. Und der Hofplatz vor dem Wohnhause war noch immer wie ein eingeschlossener Raum ohne Aussicht nach irgendeiner Seite, ganz wie zu Zeiten des Vaters, weil er es nicht übers Herz brachte, irgend einen Busch weghauen zu lassen.
    Sie war im Schatten eines großen Ahorns bei der Einfahrt stehen geblieben und schaute sich nun aufmerksam um, und während sie so dastand, geschah etwas Merkwürdiges: eine Schar Tauben kam dahergeflogen und ließ sich neben ihr nieder.
    Sie konnte kaum glauben, daß es wirkliche Vögel seien, denn Tauben pflegen sonst nie nach Sonnenuntergang auszufliegen. Der helle Mondschein mußte sie geweckt haben, daß sie geglaubt hatten, es sei schon Tag, und so waren sie aus dem Taubenschlag herausgeflogen; aber da waren sie wohl verwirrt geworden und hatten den Weg nicht mehr zurückgefunden, und als sie einen Menschen gewahrten, flogen sie zu ihm, ihn um seine Hilfe zu bitten.
    Zu Lebzeiten ihrer Eltern waren immer eine Menge Tauben auf dem Hofe gewesen, denn die Tauben hatten auch zu den Tieren gehört, die der Vater unter seinen besonderen Schutz genommen hatte. Wenn nur jemand davon sprach, daß eine Taube geschlachtet werden sollte, so verdarb ihm das die gute Laune. Jetzt war es ihr eine wahre Herzensfreude, daß die schönen Vögel sie an der Schwelle des alten Hauses begrüßten. Wer konnte wissen, ob nicht die Tauben gerade deshalb zur Nachtzeit ausgeflogen waren, um ihr zu zeigen, daß sie nicht vergessen hätten, welch eine gute Heimat sie einst hier gehabt hatten!
    Oder hatte vielleicht der Vater seine Vögel mit einem Gruße zu ihr geschickt, damit sie sich nicht gar so verlassen und einsam fühlen sollte, wenn sie nun wieder in die alte Heimat kam?
    Während ihr diese Gedanken durch den Kopf flogen, regte sich eine so heiße Sehnsucht nach den alten Zeiten in ihrem Herzen, daß ihr die Tränen in die Augen traten. Es war ein gutes Leben gewesen, das sie auf dem Hofe geführt hatten. Sie hatten saure Wochen gehabt, aber auch frohe Feste; sie hatten den Tag über fleißig sein müssen, aber am Abend hatte man sich umdie Lampe versammelt und Tegnér und Runeberg, Frau Lenngren und Friedericke Bremer gelesen. Sie hatten Getreide gebaut, aber auch Rosen und Jasmin gezogen; sie hatten Flachs gesponnen, aber beim Spinnen waren Volkslieder gesungen worden. Sie hatten sich mit der Grammatik und der Weltgeschichte abgequält; aber sie hatten auch Komödie gespielt und Verse gedichtet. Sie hatten am Herd gestanden und das Essen gekocht; aber sie hatten auch musizieren dürfen, hatten Klavier, Gitarre und Geige gespielt und Flöte geblasen. Sie hatten in einem Garten Kohl und Rüben, Erbsen und Bohnen gepflanzt; aber es war noch ein zweiter Garten da, wo es Äpfel und Birnen und allerlei Beeren in Hülle und Fülle gab. Sie hatten ein ziemlich einsames Leben geführt, aber gerade deshalb hatten sie sich in eine Märchen- und Sagenwelt hineingelebt. Ihre Kleider waren aus eigengewobenen Stoffen verfertigt gewesen; aber sie hatten auch unabhängig und sorgenfrei leben können.
    „Nirgends auf der weiten Welt verstehen es die Menschen so gut, sich das Leben schön einzurichten, als sie das zu meiner Zeit auf einem solchen kleinen Herrenhofe verstanden haben,“ dachte die Dichterin. „Da hatte die Arbeit ihre Zeit und das Vergnügen seine Zeit, aber die Freude herrschte jeden Tag. Wie gern möchte ich hierher zurückkehren!“ dachte sie weiter. „Seit ich den Hof wiedergesehen habe, fällt mir das Fortgehen fast zu schwer.“
    Und dann wendete sie sich an die Taubenschar und sagte zu ihr, während sie doch zugleich über sich selbst lächelte: „Fliegt zurück zu meinem Vater und sagt ihm, daß ich Heimweh habe. Nun bin ich lange genug an fremden Orten gewesen; fragt ihn, ob er es nicht einrichten könne, daß ich bald wieder in die Heimat meiner Kindheit zurückkehren dürfe?“
    Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, als die ganze Taubenschar auch schon auf und davon flog; sie versuchte, den Vögeln mit den Augen zu folgen, aber sie verschwanden rasch; es war, als habe die ganze weiße Schar sich in der mondhellen Luft aufgelöst.
    Aber kaum waren die Tauben verschwunden, als aus dem Garten laute Schreie an ihr Ohr drangen, und als sie rasch dahineilte, woher die Rufe kamen, bot sich ihr ein

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