Die wunderbare Welt der Rosie Duncan
Repräsentation – statt Identifikation – entschieden haben«, verkündete das Programm. »Auch haben wir das Konzept des Regiseurs verworfen und einen gruppendynamischen Ansatz gewählt.«
Ein Schauspieler kam auf die Bühne gerannt, in der einen Hand einen Schweinekopf, in der anderen etwas, das wie zwei Pfund Gedärm aussah.
»Dieses Stück bekommen die Verdammten in der Hölle vorgeführt«, flüsterte Ed. »Immer wieder und wieder und wieder … Aua! Das war mein Knöchel!«
» Schschsch , jetzt kommt Marnie!«
Marnie schritt langsam bis zur Mitte der Bühne. Ihre Miene war wie versteinert, um das linke Handgelenk trug sie ein rotes Band.
»Genug!«, schrie sie, die Hände erhoben wie eine Druidenpriesterin. »Die Zeit ist nicht, was sie uns zu sein scheint!« Ich konnte förmlich sehen, wie sie ganz langsam bis drei zählte, und dann ebenso feierlich abging, wie sie aufgetreten war.
»Zwei Zeilen? Ich habe mich wegen zwei Zeilen drei unendlich lange Stunden durch das schlechteste Stück des Universums gequält?«, jammerte Ed, als wir uns danach im Diner gegenüber stärkten.
»Ich weiß, aber Marnie hat sich wirklich darüber gefreut, dass wir gekommen sind. Und schau mal, ich habe dir extra deinen Lieblings-Schoko-Käsekuchen spendiert, um mich bei dir zu bedanken«, erwiderte ich und deutete auf die Riesenportion, hinter der Ed fast verschwand.
Eds blaue Augen nahmen mich scharf ins Visier. »Bilde dir bloß nicht ein, dass das ›Familienargument‹ auf Dauer funktionieren wird, Duncan. Heute Abend war mir nur gerade generös zumute, das ist alles.«
Ich lächelte. »Wie schön. Rede dir das ruhig ein, wenn du dich dann besser fühlst.«
Ed brummelte Unverständliches hinter seinem Käsekuchen.
So geht das immer bei Ed und mir. Wir können gar nicht anders – vielleicht liegt es daran, dass wir uns so ähnlich sind. Wir haben denselben Film- und Musikgeschmack, wir finden beide, dass große, dampfende Hot Dogs und eiskalte Papaya-Shakes von Gray’s Papaya in der West 72nd Street das Beste ist, was man sich an einem Sonntagnachmittag gönnen kann, und wir lieben es, Leute in einer Weise zu analysieren, dass sogar die Protagonisten in Dawson’s Creek erblassen würden. Vor allem aber teilen wir eine Leidenschaft für New York: Ed, weil er sein ganzes Leben hier verbracht hat, und ich, weil ich … nun ja, weil ich mich in dem Augenblick in die Stadt verliebt habe, als ich am Grand Central aus dem Zug gestiegen und unter der Sternendecke der Bahnhofshalle in die Menschenmenge eingetaucht bin. Früher habe ich es immer für eine maßlose Übertreibung gehalten, wenn Leute behaupteten, in New York habe man das Gefühl, alle Träume könnten wahr werden. Doch an meinem allerersten Tag in New York hatte ich dann genau dasselbe Gefühl. So, als ob in dieser Stadt wirklich alles möglich wäre – als könnten sich hier auch die größten, grandiosesten Hoffnungen und aberwitzigsten Sehnsüchte erfüllen.
Es war Ed, der mich dazu ermunterte, New York zu erkunden, und Ed, der mir anbot, mich auf meiner Entdeckungsreise zu begleiten. Weshalb wir uns seit fünf Jahren fast jeden Sonntag an der U-Bahn treffen und zu unseren
Streifzügen aufbrechen. Wir bummeln über die Bleecker Street mit ihren Boho-Chic-Boutiquen, stöbern bei Forbidden Planet am Broadway in Comics und entdecken dabei alte und neue Superhelden. Wir schauen von den Aussichtsplattformen des Empire State und des Chrysler Buildings zu, wie die Sonne über der Stadt versinkt (»Nur wenn man beide Aussichten gesehen hat, versteht man das Wettrennen um die Höhe«, sagt Ed), essen Austern in den Gewölben unter Grand Central, schleichen uns in den privaten Gramercy Park – nachdem uns ein alter Schulfreund von Ed, der jetzt im Gramercy Hotel arbeitet, heimlich die Schlüssel zugesteckt hat (man mag kaum glauben, was für Leute Ed so alles kennt) –, und führen stundenlange, von Lachen erfüllte Gespräche in den unzähligen Cafés, Diners und Restaurants in Manhattan. Es stimmt wirklich, was über diese Stadt gesagt wird: Sie bietet eine Million Erlebnisse an einem einzigen Ort. Auch jetzt, nachdem ich schon sechs Jahre hier lebe, habe ich noch immer das Gefühl, nicht einmal an der Oberfläche all dessen gekratzt zu haben, was New York zu bieten hat.
Freitags herrscht im Laden normalerweise Hochbetrieb. Von dem Augenblick an, da wir die Metallgitter hochschieben, bis zu dem Moment, wenn wir das »Geöffnet«-Schild auf
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