Die Wunderheilerin
allein; er wurde von Philipp Melanchthon und dem Rektor der Universität zu Wittenberg begleitet.
Die Leipziger sammelten sich vor dem Haus des Buchdruckers, um einen Blick auf den Mann zu werfen, der ihre kleine Welt in Unordnung gebracht hatte. Und wieder bildeten sich zwei Lager. Ja, Priska erschien es sogar, als wäre die ganze Stadt zweigeteilt. Die einen, die Anhänger Luthers waren und sich Lutheraner nannten, wurden von Johann von Schleußig angeführt. Die anderen scharten sich um den Vorsteher des Augustiner-Chorherrenstiftes. Aber jeder, ganz gleich, zu welchem Lager er gehörte, wartete auf den Ausgang der Disputation.
Sechs Tage lang disputierten Eck und Luther miteinander. Melanchthon, berichteten die, die dabei gewesen waren, hätte hinter Luthers Katheder gestanden undihm eingeflüstert. Sogar Zettel soll er ihm geschrieben haben.
Auch Eck hatte sich mit seinen Getreuen umgeben. Es waren ausgewählte Theologen der Leipziger Universität und einige andere Professoren, zu denen auch der Ehemann der Lechnerin gehörte. Doch von denen wurde berichtet, sie hätten allzeit sanft geschlafen.
Am 15. Juli dann beendete der Rektor der Leipziger Universität mit einer Schlussrede die Disputation und erklärt beide Gelehrte zu Siegern. Der Thomanerchor sang, die Stadtpfeifer spielten dazu.
Mit Luthers Bekenntnis, dass weder Papst noch Konzil die höchste Autorität in Glaubensdingen besäßen, wurde der Bruch zwischen dem Doktor aus Wittenberg und Rom offensichtlich.
Herzog Georg der Bärtige aber, der der Disputation ebenfalls beigewohnt hatte, ging von nun an mit aller Strenge gegen die Lutherfreunde vor. Es brachen schlimme Zeiten an.
Zwanzigstes Kapitel
Ein Riss ging durch die ganze Stadt. Überall war er zu spüren. Es ging nicht mehr nur um Luther und seine Kritik am Ablass. Es ging um die ganze Gesellschaft. Die Gesellen erhoben sich gegen ihre Herren. Sie hatten die Nase voll vom Ständewesen, das ihnen nur so geringe Rechte einräumte. Sie hockten in Wirtschaften, tranken ihre dumpfe Wut weg oder aber zogen durch die Gassen, wüste Parolen grölend. Die Büttel kamen mit ihrer Arbeit nicht mehr nach, bald jeden Tag gab es Schlägereien. Auch die Studenten rebellierten. «Es wird etwas geschehen», prophezeite Eva düster und drückte ihren Sohn an sich, als ahne sie bereits das kommende Unglück.
«Was soll denn geschehen?», fragte Priska. «Meinst du, es wird zu einem Krieg kommen? Bauern gegen ihre Grundherren? Gesellen gegen Meister? Christen gegen Juden?»
Eva nickte. «Johann war gestern in Zuckelhausen. Inzwischen leben dort 27 Bauern. Sie haben keinen geistlichen Beistand. Eigentlich hat Johann dort nichts zu suchen, denn das Dorf gehört nicht mehr zum Gebiet unseres Herzogs Georg von Sachsen, sondern zum Kurfürsten, der den Lutheranern freundlich gesinnt ist.»
«Was wollte er dann dort?»
«Nun, die Bauern haben sich erhoben. Eine neue Steuer sollen sie zahlen, doch sie weigern sich. Der Lehnsherr, das Augustiner-Chorherrenstift, hat einen Trupp Söldner geschickt, um die Bauern niederzuschlagen. Übermorgen sollen sie in Zuckelhausen eintreffen. Johann hat versucht, eine gütliche Lösung zu finden, doch es gibt einfach keine. Entweder verhungern die Bauern, oder aber sie werden von den Söldnern erschlagen. Nun geht Johann durch die Stadt. Es gibt viele Lutheraner unter den Leipzigern. Er will sie gewinnen, sich gemeinsam mit den Zuckelhausener Bauern gegen die Söldner zu stellen.»
Eva strahlte. «Und Aurel wird mit Johann gehen.»
«Hast du keine Angst um ihn?»
Eva schüttelte den Kopf. «Weißt du», sagte sie leise, «seit David mich umbringen wollte, habe ich vor nichts und niemandem mehr Angst. Mir scheint, das Schlimmste, das einem Menschen geschehen kann, habe ich bereits erlebt. Nicht einmal die Franzosenkrankheit konnte mir etwas anhaben. Wovor soll ich mich noch fürchten?»
Priska nickte. «Es wird schon alles gut gehen», sagte sie, konnte aber die Besorgnis in ihrer Stimme nicht unterdrücken.
Als Priska am nächsten Morgen erwachte, erschien ihr die Sonne giftig gelb. Das Atmen fiel ihr schwer. Sie holte tief Luft, versuchte dann die dunklen Gedanken abzuschütteln und ging zu den Hübschlerinnen.
«Wie geht es euch heute?», fragte sie und stellte ihren Weidenkorb, in dem sich – wie jeden Monat – Bienenwachskugeln befanden, auf eine Bank.
Die Hübschlerinnen saßen müde um einen großenHolztisch herum. Niemand sang heute, kein
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