Die wundersame Reise einer finnischen Gebetsmühle
eine dritte hatte sich abgespalten und bildete eine eigene tibetische Linie. Der Buddhismus begriff sich selbst als eine Art religiöses Fahrzeug. Das indische »Fahrzeug« wurde Theravada genannt, die Lehre der Älteren, für die große Masse der Gläubigen war Mahayana reserviert, das »große Fahrzeug«, und die Tibeter glaubten ans Vajrayana , das »Diamantfahrzeug«. Lauri erzählte, dass diese tibetische Glaubensrichtung nicht nur das Fahren mit diamantenen Fahrzeugen, sondern auch den Blitz bezeichnet, der, wenn er am Himmel zuckte, wie ein Edelstein funkelt.
Beide Freunde hielten es für unerlässlich, eine neue Religion zu praktizieren, und als Grundlage schien ihnen das, was Kalle geträumt hatte, gut geeignet. Ihre gegenwärtige Gefangenschaft und die Verhöre im tibetischen Kloster versprachen wahrlich nichts Gutes für die Zukunft. Allein würden sie sich kaum aus dieser Notlage retten können, da war es ratsam, den Blick zu einer göttlichen Kraft zu erheben und um Rettung zu beten.
Ob nicht vielleicht doch der traditionelle christliche Glaube am ehesten helfen würde, gab Kalle zu bedenken. Aber Lauri fand, dass eine eigene Religion in dieser Situation wichtig und eine bessere Garantie für die Rettung war.
»Etwas Eigenes ist immer am besten, und von Jesus haben wir vermutlich nicht viel zu erwarten, zumal keiner von uns wirklich gläubig ist.«
Als Kalle über die Sache nachgedacht hatte, musste auch er zugeben, dass der christliche Glaube in diesem chinesischen Kloster offenbar keine große Kraft besaß. So hatte er letztlich keine Einwände dagegen, eine eigene Religion zu gründen, jedenfalls würde es die Sachlage nicht verschlimmern. Die Welt bot genug Platz für Religionen, warum nicht auch für eine eigene und selbst entwickelte.
Kalle fand, dass sie ein paar Wesenszüge des tibetischen Buddhismus übernehmen könnten, da sie sich nun mal in Tibet befanden und der diamantene Blitz ihn beeindruckt hatte. Eine finnische Weltreligion, die schimmern würde wie ein Edelstein, dürfte künftige Glaubensbrüder und -schwestern durchaus ansprechen, zumal in Kombination mit einem Register guter Taten. Die neue Religion stand also im Wesentlichen auf einer stabilen Basis.
»Wir müssten noch irgendetwas echt Finnisches hinzufügen, zum Beispiel Elemente des laestadianischen Glaubens«, schlug Lauri vor.
Seine alte Tante war ihr Leben lang Altlaestadianerin gewesen, sehr fromm und auch sonst ein hochanständiger Mensch. Sie hatte altlaestadianische Choräle gesungen und war sonntags zu den Zusammenkünften der Sekte gegangen. Jeden Sommer hatte die fromme Frau eine ganze Woche mit ihren Glaubensschwestern und -brüdern verbracht. Kalle äußerte Zweifel, dass der Glaube ihr irgendwie geholfen hatte. Welchen Nutzen hatte sie davon gehabt? Lauri erzählte, dass die Tante ihr Leben lang in ihrer Gemeinde im nördlichen Puolanka sehr geachtet gewesen war und es zu einem beachtlichen Vermögen gebracht hatte. Sie war unverheiratet und Ladeninhaberin gewesen, und niemand hätte vermutet, dass sie am Ende ihres Lebens reich sein würde. Aber genau das war passiert, und die Tante hatte in der Stadt Oulu einen zweiten Laden eröffnet. Sie hatte Bedarfsartikel für die Landwirtschaft verkauft, Kummets für die Pferde, Milchkannen, Kaffeekannen, Tretschlitten, verschiedene Arbeitsgeräte, angefangen von Stampfern und Äxten bis hin zu Webstühlen.
»Aber der liebe Gott hat deiner Tante keinen Ehemann beschert?«
Sie hätte sehr wohl einen Mann haben können, wenn sie gewollt hätte, geeignete Kandidaten hatte es reichlich gegeben, aber sie hatte lieber allein gelebt, oder vielmehr war sie bereits in jungen Jahren die Braut Christi geworden. Dadurch, dass sie die Heiratskandidaten abgewiesen hatte, hatte sie sich vermutlich viel Ärger erspart. Wer weiß, welchen Säufer sie am Hals gehabt hätte, hätte sie sich zur Sklavin irdischer Begierden gemacht. Alles in allem hatte die Tante ein wunderbares und reiches Leben gehabt, war bis ins hohe Alter gesund geblieben und erst mit achtundachtzig Jahren gestorben. Vor sechs Jahren war sie, unter dem Geleit einer riesigen Schar von Freunden, auf dem Friedhof von Puolanka beigesetzt worden. Die Glaubensbrüder und -schwestern hatten auf ihren Grabhügel einen mächtigen Stein gesetzt, in den die erste Strophe ihres Lieblingschorals eingemeißelt war, der den Weg nach Golgatha zum Inhalt hatte.
Lauri schätzte, dass Tausende Exemplare der Gebetsmühle hergestellt
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