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Die wundersame Reise einer finnischen Gebetsmühle

Die wundersame Reise einer finnischen Gebetsmühle

Titel: Die wundersame Reise einer finnischen Gebetsmühle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arto Paasilinna
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Freunden aus ihren Zellen zu helfen, könnten sie allerdings auf keinen Fall mit dem Schnellzug zurückreisen, denn dort würde man sie alsbald erneut festnehmen und sie anschließend wieder ins Kloster verfrachten. Zwar war das Klosterleben eigentlich gut geeignet für jemanden, der eines Verbrechens verdächtigt wurde, aber falls die beiden Gefährten nach ihren bisherigen trüben Erfahrungen keinen Spaß mehr daran hätten, sollten sie über eine Flucht durchs Gebirge, direkt nach Indien nachdenken. So hatte es seinerzeit der junge Dalai Lama gemacht, und nach ihm Tausende anderer Tibeter. Sorjonen versprach, wetterfeste Gebirgskleidung, Proviant und anderes Notwendige für die Flucht zu besorgen und irgendwo in der Nähe zu deponieren.
    Abschließend empfahl Doktor Sorjonen Lauri ein paar Tage Bettruhe. Er war davon überzeugt, dass die Chinesen sein Ruhebedürfnis respektieren würden. Ruhe stand den beiden Häftlingen unter Umständen sogar für Jahrzehnte bevor, zunächst in diesen Zellen, dann Grabesruhe bis zum Einzug in den Himmel. Und in diesem Fall gäbe es sogar etwas durchaus Positives:
    »Nacherna meinerna Wisserna werderna bei Hingerichterna keinerna Obduktionerna gemachterna. Ihrerna werderna unversehrterna oberna ankommerna.«
    Tatsächlich beherrschte auch Kalle die gewählte Geheimsprache einigermaßen, und so dauerte seine Untersuchung nur ein paar Minuten. Sorjonen stellte fest, dass der Erfinder ein gesunder Mann war, empfahl aber auch ihm ein paar Tage Ruhe vor der anstrengenden Flucht nach Indien.
    Sorjonen betonte noch, dass die Bedingungen im Gebirge äußerst rau seien. Aber es würde schon alles gut gehen. Die beiden Gefährten sollten einfach der höheren Macht, dem Arzt, vertrauen, sagte er ihnen zum Abschied.
    »Führchteterna eucherna nichterna.«

18
    Doktor Seppo Sorjonen kam fast jeden Tag ins Gefängniskloster zu Besuch. Er unterhielt sich mit Lauri Lonkonen in Geheimsprache und vereinbarte mit ihm die Details der Flucht. Mit Kalle sprach er dagegen kaum darüber, denn oft lungerten im Saal Chinesen herum, und er war sich nicht sicher, wie schnell es ihnen gelingen würde, das Geheimnis der Sprache zu entschlüsseln. Sicher war jedoch, dass sie, würden sie von den Fluchtplänen erfahren, zu drastischen Maßnahmen greifen würden. Kalles und Lauris Leben wäre dann keinen Pfifferling mehr wert.
    Im Laufe der Woche einigten sich Sorjonen und Lauri endgültig auf den Fluchtplan. Der war zwar nicht sehr kompliziert, aber für die Realisierung benötigte der Doktor dennoch viele Tage. Da Lauri und Kalle in ihren Zellen keine Gebirgsausrüstung hatten, musste die erst mal angeschafft werden. Sorjonen richtete für die Flüchtlinge im Südwesten vor Lhasa einen Proviant- und Ausrüstungsstützpunkt ein. Er besorgte möglichst genaue Karten von Tibet, Nepal und den nordöstlichen Teilen Indiens, außerdem zwei Kompasse und Notizblöcke. Die Karten und die Notizblöcke rollte er um die Griffe zweier Taschenlampen, die er den Gefangenen heimlich durch die Gitterstäbe reichte. Lauri und Kalle versteckten die Schätze sofort unter ihren Matratzen. Am Morgen flüsterte Sorjonen Lauri zu, dass er in einer geeigneten Nacht die Fensterluken in der Außenmauer des Klosters öffnen würde. Zwar würde es für die Häftlinge beschwerlich sein, durch die gut anderthalb Meter dicke Steinmauer zu kriechen, aber dieser enge Schacht sei die einzige Chance für sie, ins Freie zu gelangen. Kalle freute sich, dass er zufällig während der Haft mehrere Kilo abgenommen hatte. Auch Lauri fand, dass es peinlich wäre, wenn einer von ihnen womöglich wegen seines Bauches stecken bleiben würde. In dieser Hinsicht war die Verpflegung in der chinesischen Zelle vorbildlich gewesen.
    Die letzten Tage vor der tollkühnen Flucht vergingen in gespannter Erwartung. Lauri und Kalle beteten im Stillen unzählige Male zum Weltall und flehten um gnädigen Beistand und göttliche Führung durchs Gebirge nach Indien. Jeden Abend übten sie, aus Decken und Bettzeug einen »kalten Kalle« zu formen. So nennt man die von Rekruten erfundene raffinierte Nachbildung eines menschlichen Körpers, die in den Kasernen der finnischen Armee immer dann zum Einsatz kam, wenn ein Soldat beschlossen hatte, abends heimlich auszugehen. Erschien dann der diensthabende Offizier oder Unteroffizier in der Stube, um zu kontrollieren, ob alle ordnungsgemäß in ihren Betten lagen, fand er im Bett des »Urlaubers« ein Gebilde, das wie ein Mann

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