Die wundersame Reise einer finnischen Gebetsmühle
der Piepmatz saß auf dem Gitter und zwitscherte.
Die Männer waren zufrieden und wollten dem kleinen Vogel wieder in die Freiheit verhelfen. Dummerweise waren die Luken in der Steinmauer von außen verrammelt. Dieser Fluchtweg war also versperrt, es gab kein Entkommen, nicht für den Vogel und nicht für die Gefangenen.
Lauri und Kalle baten das Weltall, dafür zu sorgen, dass der Vogel den Weg nach draußen fand. Das Weltall erfüllte den Wunsch. Die Tür des Hauptsaals öffnete sich, und herein trat der Wärter, der den Gefangenen die abendliche Suppe brachte. Jetzt flatterte der kleine Vogel hinaus in die sommerliche Freiheit. Doch das war noch nicht alles – dieses Mal enthielt die Suppe mehr Einlagen als üblich, eindeutig frisch gekochtes Huhn und verschiedene Kräuter. Lauri und Kalle schlürften ihre Portion mit gutem Appetit und rühmten sich, dass sie wahrhaft gläubig seien. Das Weltall hatte ihren Hilferuf gehört und kannte ihr hartes Schicksal. Die beiden beschlossen, abends ein weiteres Mal zu beten, richtig andächtig und mit ernster Miene.
Spätabends beteten Lauri und Kalle erneut zum Weltall um Befreiung aus der Haft oder zumindest um ein erträgliches Strafmaß. Die Ungewissheit über ihr künftiges Schicksal beflügelte ihre Andacht und verlieh ihrem Gebet große Aufrichtigkeit, sodass sie anschließend beruhigt auf ihrer harten Lagerstatt einschliefen.
Am nächsten Tag geschah ein Wunder, größer und konkreter noch als der Besuch des kleinen Vogels am Vortag. In das massive Klosterbauwerk trat bald nach Ende des täglichen Verhörs ein Arzt, ein kräftiger Mann in mittleren Jahren, seine Haut war vom Leben an der frischen Luft gegerbt, er hieß Seppo Sorjonen. Der Mann war Facharzt für Allgemeinmedizin und als praktischer Berater für ein internationales Kinderhilfsprogramm in Tibet unterwegs. Viele westliche Ärzte und Krankenschwestern arbeiteten an Tibets Nordostgrenze und behandelten die mannigfaltigen Leiden der dortigen Einwohner, angefangen von Unterernährung bis hin zu verschiedenen Seuchen. Die Chinesen hatten den finnischen Arzt nach Lhasa gerufen, damit er vor Beginn des Gerichtsprozesses den Gesundheitszustand seiner inhaftierten Landsleute untersuchte. Sorjonen war gern in die Hauptstadt gekommen, denn das gab ihm Gelegenheit, sich mit medizinischem Gerät und Lebensmitteln einzudecken, bevor er an seinen abgelegenen Einsatzort zurückkehrte.
Die Soldaten öffneten zunächst die Gittertür von Lauri Lonkonens Zelle. Lauri musste sich mit nacktem Oberkörper auf den Verhörtisch legen. Der Arzt horchte seine Lunge ab und drückte ihm in die Seiten, dann bat er ihn, sich auf den Bauch zu legen, beklopfte seinen Rücken und prüfte die Beweglichkeit seiner Beine. Dabei erkundigte er sich nach den persönlichen Daten und eventuellen Vorerkrankungen. Als er erfuhr, dass der Patient in jüngster Zeit durch Indien gereist war und vorher im eiskalten Wasser des Finnischen Meerbusens hatte ausharren müssen, lobte er seine Zähigkeit und erklärte, dass schwächere Männer an so einer harten Prüfung längst gestorben wären.
»In der rechten Lunge pfeift es ein bisschen, aber ein Knastinsasse braucht schließlich Musik, am besten selbst gemachte.«
Lauri zischte dem Arzt zu, ob er als Landsmann ihm und seinem Gefährten helfen könnte, auf freien Fuß zu gelangen. Sorjonen erwiderte, dass das auf offiziellem Wege nicht möglich sei, nach allem, was die Chinesen ihm über die beiden Männer gesagt hatten.
»Die hiesigen Beamten verstehen Finnisch, sollten wir da nicht lieber im Rauma-Dialekt sprechen?«
Lauri verriet, dass er und sein Gefährte sich aus Geheimhaltungsgründen in diesem schwer verständlichen Dialekt unterhielten, aus dem nicht mal der Teufel schlau wurde, geschweige denn ein Sprachkünstler vom chinesischen Geheimdienst. Jetzt, da es um Fluchtpläne gehen würde, könnte ihnen der Dialekt unter Umständen das Leben retten.
Sorjonen flüsterte seinerseits, dass er dieses Kauderwelsch nicht verstehe. Er schlug vor, die alte Geheimsprache zu verwenden, die sie schon als Schüler benutzt hatten, auch Lauri und Kalle, wie er vermutete. Englisch, Deutsch, sogar Finnisch oder den Savo-Dialekt würden die Chinesen verstehen, aber diese Geheimsprache ganz sicher nicht.
So machten sie es, und nun konnte Lauri offen sein Schicksal beklagen. Sorjonen überlegte eine Weile. Schließlich versprach er, sein Möglichstes zu tun. Wenn es ihm gelingen sollte, den beiden
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