Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
bleibt mir nichts anderes übrig, als dem Tribunal meines Herzens zu vertrauen. Vernunft und Intelligenz genügen nicht. Es ist eine Frage des Herzens, und des Glaubens. Die Heiligen und die Märtyrer vergangener Zeiten sind mit der Überzeugung gestorben, dass Gottes Reich besser ist als das des Menschen. Doch in Venedig habe ich eine Welt kennengelernt, in der Gott und der Mensch in der gleichen Stadt wohnen. Die Pfähle, auf denen diese Stadt ruht, und die Herzen ihrer Bewohner sind die Wurzeln des Himmels. Hier habe ich eine Zukunft gesehen, die unserem Schmerz und unserem Elend einen Sinn gibt.
Diese Zukunft liegt greifbar nahe.
Ich muss nur die Hand danach ausstrecken.
Und das werde ich tun, mit meiner Reise.
Vielleicht erfüllt sich am Ende des Weges auch die letzte Prophezeiung. Vielleicht senkt sich dann ein Regenbogen zur Erde und zeigt, dass Gott Frieden mit den Menschen geschlossen hat. Seit zwanzig Jahren sieht unsere Welt keinen Regenbogen.
Noch ist es nicht so weit, denke ich, als ich zu den grauen Wolken am Himmel emporblicke.
Aber der Tag wird kommen.
Alessia und ich sehen uns lange an.
Wir stehen uns gegenüber und schauen uns in die Augen, ohne etwas zu sagen.
Wind kommt auf.
Es überrascht mich nicht, dass er in die richtige Richtung weht.
»Leb wohl«, sage ich schließlich.
»Das klingt schrecklich.«
»Dann eben … Auf Wiedersehen.«
Sie bewegt sich als Erste und kommt so nahe heran, dass nur noch wenige Zentimeter unsere Gesichter voneinander trennen.
Eine Zeit lang bleiben wir so stehen, und wieder schweigen wir.
Dann wendet sich Alessia ab und geht zur Stadt.
Ich blicke ihr lange nach und hoffe, das sie sich noch einmal umdreht. Gleichzeitig fürchte ich es.
Sie geht weiter, bis sie zu einer winzigen Gestalt in der Ferne wird.
Alessia sieht nicht noch einmal zu mir zurück.
Wir sind allein, die Bombe und ich.
Du bist einen weiten Weg hierhergekommen, denke ich. Und jetzt bringe ich dich zurück.
Wie ironisch.
Und wie dumm.
Die Menschen, die dich gebaut haben, hätten sich nie eine solche Welt vorgestellt, sage ich zu der Bombe. Und sie hätten es auch nicht für möglich gehalten, dass du einem so seltsamen Zweck dienst.
Wie zärtlich streichen meine Finger über die Plane. Dort liegt sie, meine Reisebegleiterin.
Bevor ich aufbreche, muss ich noch etwas erledigen.
Ich greife in die Tasche, hole Durands Handy hervor und starte das Programm, das eine Art Radarschirm zeigt.
Ghost Radar – so haben sie es genannt.
Dann schalte ich auch das Funkgerät ein, das ich von Maxim erhalten habe, in unserem Zimmer in der Calixtus-Katakombe, vor hundert Jahren, wie mir scheint. Das Funkgerät, das zu Gottschall gesprochen hat.
Ich höre ein Knistern aus dem Lautsprecher und stelle die richtige Frequenz ein.
Der auf dem Handy-Display simulierte Radarschirm zeigt rote und grüne Punkte. Es herrscht rege Aktivität.
»Maxim?« Ich spreche ins Mikrofon des Funkgeräts, von dem Durand behauptet hat, dass es gar nicht funktioniert.
Auf dem Display des Handys erscheint das Wort MAXIM .
Es ertönt die Stimme, die ich schon einmal gehört habe, die Stimme einer Frau, weit und entfernt und wie mechanisch.
»Maxim, sag dem Kardinal, dass ich zurückkehre«, sage ich langsam und deutlich.
MAXIM , lese ich auf dem Display.
KARDINAL SAGEN ZURÜCKKEHREN.
Eine Zeit lang bleibt der kleine Schirm leer.
Dann erscheint ein Wort.
JOHN.
JOHN , sagt die Stimme.
Ein Lächeln erscheint auf meinen Lippen.
Ich werfe das Handy zu Boden, und dann auch das Funkgerät.
Mit dem Stiefel trete ich darauf herum, bis beides im Schnee verschwindet.
Anschließend nehme ich die Zugseile des Schlittens und verbinde sie mit den Ledergurten, die die Venezianer für mich vorbereitet haben.
Es heißt, bei jeder Reise sei der erste Schritt der schwierigste, wiederholt Alessias Stimme inmitten meiner Gedanken.
Ich weiß nicht, ob das stimmt.
Ich weiß, dass dem ersten Schritt ein zweiter folgt, dann ein dritter und so weiter. Das Knirschen des Schnees unter dem Schlitten gibt mir den Takt an, der Weg ist eben und gerade, und ich kenne viele Lieder, die diese Welt nicht kennt. Es gibt noch viel mehr Lieder, die ich nicht kenne, aber ich bin sicher, dass die Reise sie mich lehren wird.
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