Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
wodurch sie aber nicht weniger lebendig sind. Alberto gehört zu ihnen. Er hat sich entschuldigt, weil er mir nicht beim Tragen helfen kann. Er ist bestrebt gewesen, mir die Reise zu erleichtern, indem er mir weitere Geschichten über Geister und bestimmte magische Engel von Venedig erzählt hat, die ich leider nicht gesehen habe.
Und dann ist da noch Alessia.
Alessia, meine Alessia. Mit traumwandlerischer Leichtigkeit wechselt sie von einer Daseinsform zur anderen. Manchmal gelingt es mir, ihre Hand zu berühren; bei anderen Gelegenheiten fühlen meine Finger nur so etwas wie dichte Luft und ein leichtes elektrisches Prickeln. Ihre Worte erreichen meine Ohren, erklingen jedoch viel öfter in meinem Kopf, und dann glaube ich, mit offenen Augen zu träumen.
Dies erscheint mir tatsächlich wie ein Traum: am helllichten Tag zu gehen, an der Spitze einer Gruppe aus Toten, Geistern und lebenden Wesen, die beschlossen haben, mich nicht zu behindern und meine Entscheidung zu akzeptieren, trotz der damit für sie verbundenen Gefahren. Die dunkle Macht des Patriarchen hält sie am Leben, so wie sie während der vergangenen Tage mich am Leben erhalten haben und immer noch erhalten. Ich atme auch weiterhin die giftige Luft, habe keinen Hunger und spüre die Kälte nicht. Sind unsere Körper glorifiziert , wie der von Jesus nach seiner Wiederauferstehung? Ich weiß es nicht. Dies ist noch nicht die Zeit für theologische Überlegungen. Es ist die Zeit zu leben, zu handeln und die sonderbaren Samen, die ich in der Stadt gefunden habe, vor dem Wahnsinn des Menschen in Sicherheit zu bringen. Außerdem ist der Schutz durch den Patriarchen nicht grenzenlos. Wenn ich mich von Venedig entferne, muss ich wieder auf meine eigene Kraft zurückgreifen. Dann heißt es wieder: nachts reisen, eine Gasmaske tragen, Lebensmittel suchen. Meine Aussichten, Rom zu erreichen, sind gering. Doch tief in meinem Herzen – dort, wo Furcht und Hoffnung ihre Wurzeln haben – bin ich sicher, dass ich es schaffen werde.
Wir sind hierhergekommen, um jene zu verabschieden, die sich auf den Weg machen. Die Segel der Schiffe, die sie forttragen sollen, sind schon von Weitem zu sehen, zwei weiße Dreiecke am Horizont, wie Haifischflossen.
Etwa hundert Personen haben beschlossen, die Stadt zu verlassen, fast alles Lebende. Gepäck haben sie nicht. Nur ihren Körper, und in manchen Fällen nicht einmal den. Männer und Frauen, Alte und Kinder. Ganz ruhig sind die Kinder, so friedlich und unbesorgt wie auch die Erwachsenen.
Alessia geht mit leichten Schritten neben mir. Der Saum ihres langen blauen Gewands streicht über den eisverkrusteten Sand, ohne schmutzig zu werden. Sie bricht nicht mit den anderen auf, die einen sicheren Ort auf der anderen Seite des Meeres erreichen wollen. Stattdessen lässt sie sich auf das Risiko ein, dass meine neue Mission nicht zum Erfolg führt. Sie bleibt in Venedig, in dieser seltsamen Stadt, wo die Kommunion von Toten und Lebenden – eines der ältesten Dogmen meiner Kirche – auf wundersame Weise Wirklichkeit geworden ist. Doch in gewisser Weise begleitet sie mich auch. Ihre Präsenz wird während der ganzen Reise bei mir sein, zusammen mit dem Segen des Patriarchen. Beides soll mich vor den monströsen Wesen schützen, die die Finsternis bevölkern. Der Patriarch hat sein Zeichen auf mich gelegt.
Auch wenn ich im Tal der Schatten des Todes unterwegs wäre, ich habe nichts mehr zu befürchten.
Die Schiffe sind nah, und jene, die Venedig verlassen sollen, beziehen in zwei ordentlichen Reihen Aufstellung. Alessia wandert unter ihnen und empfängt von jedem einen Gruß, ein letztes Wort, ein Lächeln.
Ich drehe mich um. Venedig, einst Königin der Lagune, erscheint nach dem Zurückweichen des Wassers wie ein Schloss voller Türme. Es sind die Campaniles der Stadt, früher einmal Symbol des Glaubens. Heute bauen dort Fledermäuse und andere Geschöpfe ihre Nester, Wesen, die wieder frei in den Kanälen wandeln werden, wenn ich mich auf den Weg gemacht habe. Es ist eine seltsame neue Welt, und nur ein Teil von ihr wurde mir enthüllt. Eine Welt, die die bisherige Definition von Leben infrage stellt. Ich bin in Venedig Dingen begegnet, über die ich gründlich nachdenken muss, und während der Reise werde ich Gelegenheit dazu haben.
Meine wichtigste Aufgabe – meine Mission – besteht darin, herauszufinden, was ich geworden bin. Ob ich noch ein Priester der Heiligen Römischen Kirche bin. Einer Kirche, die stark genug
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