Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
war, das Ende der Welt zu überleben, die aber in der neuen Welt von Venedig und des Patriarchen vielleicht keinen Sinn mehr hat. Eigentlich ist es unglaublich: In meinen würdelosen, schwachen Händen halte ich die Waffe, die den Triumph meiner Kirche oder ihr Ende bedeuten kann. Die Entscheidung liegt bei mir. Welch eine große, absurde Verantwortung. Kein Mensch im Alten oder Neuen Testament hat jemals über eine solche Macht verfügt.
Deshalb habe ich beschlossen, möglichst langsam zu reisen. Damit ich Zeit habe, zu verstehen. Ich werde erst entscheiden, wenn ich verstanden habe.
Nach dem Verlassen der Krypta des Patriarchen habe ich den letzten Dienst als katholischer Priester geleistet. Ich habe vor Paul Wenzels Leiche gekniet, dessen geplatzte Lippen noch im Tod ein sarkastisches Lächeln formten, als könnte er selbst das eigene Ende nicht ernst nehmen.
Ich habe ihm die Augen geschlossen, ihm mit dem Daumen das Zeichen des Kreuzes auf die eisbedeckte Stirn gestrichen und die Worte der Salbung gesprochen.
»Durch diese heilige Salbung helfe dir der Herr in Seinem reichen Erbarmen, E r stehe dir bei mit der Kraft des Heiligen Geistes: Der Herr, der dich von Sünden befreit, rette dich, in S einer Gnade richte Er dich auf.«
Dann habe ich Diop gesucht.
Ich kenne keine passenden Rituale für einen Moslem und habe die einzigen Worte des Koran gesprochen, an die ich mich erinnere.
»Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen, dein Gott wird dich nicht vergessen und nicht verlassen.«
Und ich habe hinzugefügt: »Ruhe in Frieden, Marcel. Nimm deinen Platz bei den Heerscharen der Engel ein.«
In diesem Fall gab es keine Augen, die ich schließen konnte. Von Diops Gesicht war kaum mehr etwas übrig.
Ob ich an jene Worte glaubte? Brachte ich es über mich, meinen eigenen Lippen Glauben zu schenken? Vielleicht nicht. Vielleicht dienen solche Rituale dazu, gegen unseren Verstand zu bestätigen, dass der Glaube größer ist als unser Zweifel und unsere Furcht.
Diese Stadt hat mir viel gegeben, aber auch viel genommen, habe ich gedacht, als ich den Ort der Toten und des Todes verließ.
Die beiden Schiffe lassen ihre Rampen herab, und die Venezianer gehen an Bord.
Alessia lächelt. »Es heißt, bei jeder Reise sei der erste Schritt der schwierigste.«
»Ich weiß nicht«, erwidere ich.
Für mich bestand der schwierigste Teil darin, mich zu leeren und dann mit all dem zu füllen, was ich in dieser Stadt gesehen habe.
Mich von allem Ballast zu befreien – das war für mich schwerer als alles andere.
»Du musst dich nicht auf den Weg machen, John.«
Alessias Stimme klingt sanft, aber es liegt auch tiefe Trauer in ihr.
Ich schüttele den Kopf.
»Wenn ich hierbliebe, müsste ich ständig fürchten, dass eines Tages eine andere Gruppe kommt und das zu zerstören versucht, was ihr hier aufbaut.«
»Es ist eine lange Reise.«
»Ja. Aber ich bin nicht allein. Und außerdem gibt es vieles, worüber ich nachdenken muss. Eine lange Reise eignet sich besonders gut dafür.«
Alessia lächelt erneut und blickt dann zum Meer.
»Du bist anders. Venedig hat dich verändert.«
Ich antworte nicht, denn etwas lenkt mich ab.
Eines der Kinder trägt eine Katze in den Armen. Es scheint genau die Katze zu sein, die ich in Alessias Palazzo gesehen habe.
Die junge Frau neben mir mustert mich.
»Stimmt etwas nicht?«
»Die Katze dort …«
»Welche Katze?«
Ich zeige mit der Hand, doch das Kind hält keine Katze mehr in den Armen, sondern einen Beutel.
»Ja, Venedig hat mich verändert«, sage ich kopfschüttelnd. »Und die Stadt verändert mich noch immer.«
Alessia nickt und legt mir den Arm um den Rücken. Es ist eine Geste, die mich weder stört noch in Verlegenheit bringt. Ich habe gelernt, dass es andere Dinge gibt, die Furcht oder Scham verdienen.
Die letzten Passagiere gehen an Bord, in einer fast unheimlich wirkenden Stille. Die Seeleute – sonderbare Geschöpfe, die ich nicht genau erkennen kann; sie scheinen sich hinter einer Art Schleier zu bewegen – schicken sich an, den Anker zu lichten.
»Warum fährst du nicht mit ihnen?«, frage ich Alessia.
Sie sieht zum Himmel hoch, zu den hohen Wolken, die den Anschein erwecken, als könnte sich gleich eine Lücke zwischen ihnen bilden.
»Ich bleibe, weil mein Platz hier ist.«
»Aber wenn meine Mission fehlschlägt …«
»Auch diese Mission ist fehlgeschlagen. Und das war gut so, nicht wahr? Wie dem auch sei … Ich bin sicher, dass du es
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