Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
den langen Arm ins Wasser, ergreift Alessias Hand und zieht sie hoch.
Als er ihre Hand loslässt, schwankt die junge Frau und droht wieder ins Wasser zu fallen.
Instinktiv halte ich sie fest.
Ich fasse sie an den Armen.
Es verschlägt mir den Atem. Meine Hände berühren einen realen, lebenden Körper.
Alessia umarmt mich. Sie fühlt sich warm an und ist keine Illusion.
Wie ich schon sagte, Alessia ist mein kostbarstes Geschöpf, mein Geschenk für das Leben.
»Es ist Hexerei. Es …«
Nein, es ist ein Geschenk. Eure Waffen haben mir die Macht gegeben, Tote ins Leben zurückzuholen. Aber hat das nicht auch euer Christus getan? Und ihr habt jene Wunder als Zeichen seiner Heiligkeit gefeiert. Warum sollte es in meinem Fall Hexerei sein?
Alessias Augen sind dunkel und tief wie das Wasser, aus dem sie gekommen ist, das sie geboren hat.
»Wir müssen gehen, John.«
»Gehen? Wohin?«
»Zu einem anderen Ort. Um dort die Saat des Lebens auszubringen.«
»Mein Platz ist bei der Kirche.«
Die Kirche. Der Patriarch seufzt. Die Kirche weiß nicht, was sie mit meinen Geschenken anfangen soll. Sie hat ihre eigenen Ideen und langfristigen Projekte. Ihr glaubt noch, das Leben retten zu können, indem ihr euch in unterirdischen Refugien verkriecht. Aber das bringt euch nicht weiter. Für euch wird die Welt immer ungastlicher. Die Ressourcen, mit denen ihr euch gegen das unaufhaltsame Voranschreiten der Entropie behauptet, gehen immer mehr zur Neige. Wenn ihr den letzten Tropfen Benzin verbraucht habt und wenn die letzte Konservendose leer ist … Dann wird euch die Welt verschlingen. Der Weg der Kirche ist falsch. Denke an eure Reise hierher, an die Gewalt, die euch begleitet hat, an die Toten. Die Reise hätte dich lehren sollen, dass deine Kirche das Böse sät. Denke an ihre Botschafter. Denke daran, was sie getan haben. David Gottschall hast du Monstrum und Ungeheuer genannt. Wie würdest du Hauptmann Marc Durand nennen?
Ich weiß keine Antwort darauf.
Ein großer Dichter eurer Vergangenheit hat geschrieben, dass er auf den Tod wartet, um neu geboren zu werden. Ich bin in der Lage, die Welt und den Menschen auf diese Weise neu zu gestalten. Ich kann euch an die neue Zeit anpassen. Hast du in diesen Tagen Hunger oder Durst gehabt? Hast du irgendein anderes körperliches Bedürfnis verspürt? Am helllichten Tag hast du in dieser Stadt überlebt. Ohne Atemmaske, ohne Schutzkleidung.
Der Patriarch breitet die Arme aus und öffnet die Hände mit den langen Fingern, bevor er sie zu Fäusten ballt.
Ich biete euch dieses Geschenk an, euch allen. Ihr könnt es annehmen oder nicht. Eure Zukunft liegt in diesen Händen. Es ist eine schwere Entscheidung, aber sie liegt bei dir.
»Wieso ausgerechnet bei mir?«
Weil du der Gesandte der Kirche bist. Es gab keinen Krieg zwischen mir und euch, doch ihr habt euch wie feindliche Soldaten verhalten. Jetzt ist es deine Aufgabe, dich zu entschuldigen und den Frieden zu akzeptieren.
»Ich verfüge nicht über die dafür nötigen Befugnisse.«
Jeder von euch ist dazu berechtigt. Viele Menschen haben bereits beschlossen, sich uns anzuschließen, und sie leben glücklich und zufrieden in der Stadt, die ihr zerstören wolltet.
»Ich nicht …«
Bist du mit dem Konzept der kollektiven Verantwortung vertraut? Du kennst es bestimmt.
Ich schweige eine Zeit lang und sage schließlich: »Ich kann die Entscheidung nur für mich selbst treffen.«
Das genügt mir. Entscheide dich.
»Ich wähle weder dich noch die Kirche. Ich beschreite den dritten Weg.«
Es gibt keinen dritten Weg.
Ich lächele und ergreife Alessias Hand.
»Da irrst du dich, Legion. Wenn beide angebotenen Möglichkeiten falsch sind, muss man eine dritte wählen. Und wenn es keine gibt, muss man sie erschaffen. Lass mich dir jetzt sagen, wie meine Entscheidung lautet.«
EPILOG
DER ANFANG UND DAS ENDE
Wir sind lange gegangen, um die Stelle bei der alten Hafenzufahrt zu erreichen, von der aus man das Meer sehen kann. Um hierher zu gelangen, sind wir durch die Kanäle gewandert, die einst die wichtigen Wasserstraßen der Stadt gewesen sind. Es schneit wieder, aber nicht sehr stark. Unterwegs sind wir auf keine nennenswerten Hindernisse gestoßen.
Gelegentlich habe ich mich umgedreht, aber nicht so oft, wie ich zuerst dachte.
Viele Leute begleiten mich auf dieser Reise. Sie befinden sich ganz in der Nähe. Einige von ihnen sind real, aus Fleisch und Blut, meine ich. Anderen hingegen fehlt der körperliche Aspekt,
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