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Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)

Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)

Titel: Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tullio Avoledo
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aufschlitzt.
    Der zweite schreit wie ein Schwein.
    Und eigentlich ist er das auch, ein Schwein.
    Durand zieht die Leichen fort vom Feuer, das er mit dem Holz einer Kiste angezündet hat. Anschließend setzt er sich wieder zu ihr.
    Er bittet sie, sich den Kratzer an seiner Schläfe anzusehen.
    Sofort erfüllt sie ihm diesen Wunsch.
    »Wie heißt du?«, fragt er.
    Aber der Moment dafür ist noch nicht gekommen. Sie antwortet nicht, konzentriert sich darauf, seine Verletzung zu behandeln.
    »Du könntest ein guter Doktor sein«, sagt er.
    »Das bin ich gewesen«, erzählt sie ihm einige Wochen später. »Eine Art Doktor. Es gibt keine Universitäten mehr, aber ich bin eine Art Doktor.«
    »Wie alt bist du gewesen, als es passiert ist? Ich meine …«
    »Zwölf.«
    »Du bist schön.«
    » Du bist schön«, erwidert sie und streckt sich neben ihm aus, neben den Decken und seinen starken Armen.
    »Wir haben uns nicht geliebt, nicht in jener Nacht.«
    »Sie brauchen mir keine Einzelheiten zu nennen …«, sage ich, aber Adèle achtet gar nicht darauf.
    »Ich habe keine Probleme damit, über diese Dinge zu sprechen. Sie vielleicht?«
    »Ich bin Priester.«
    »Aber Sie sind auch ein Mensch. Wie Jesus. Jesus Christus war Mensch, nicht wahr? Er bestand aus Fleisch und Blut, wie wir.«
    »Nun …«
    »Warten Sie. Mir liegt nichts an theologischem Unterricht. Ich möchte nur eins von Ihnen wissen. Was sollen wir Ihrer Meinung nach mit den Leuten im Speisesaal machen? Sie haben das Fleisch ihrer eigenen Söhne und Töchter gegessen. Sie haben getötet, Kinder wie Vieh aufgezogen …«
    »Mir steht kein Urteil zu.«
    »Ach, nein? Und wem steht es zu?«
    »Gott natürlich.«
    »Oh, sicher. Gott. Wie konnte ich das nur vergessen. Der Gott, der Millionen und Milliarden von Menschen dem Tod ausgeliefert hat und zuließ, dass jene ekelhaften Leute am Leben blieben …«
    »Sie haben mit ihnen gelebt.«
    Adèle sieht mich an, und in ihren Augen blitzt es zornig.
    »Wagen Sie es nur nicht, mich mit diesen Leuten in einen Topf zu werfen. Marc brachte mich hierher, damit ich ihnen helfe, damit aufzuhören. Ich habe mich hier um alles gekümmert und versucht, die anderen von ihren … alten Angewohnheiten abzubringen.«
    »Aber gestern beim Essen ist Fleisch serviert worden.«
    Adèle Lombard errötet. Auf ihrer weißen Haut sehen die roten Stellen aus, als hätte ihr jemand eine Ohrfeige gegeben.
    »Das war nicht meine Idee.«
    »Nein? Aber die der anderen auch nicht, wie mir scheint. Niemand von ihnen hat das Fleisch angerührt.«
    Adèle antwortet nicht. Sie schweigt, den Blick auf die Stahltür gerichtet, die uns von dem Ort trennt, der bis vor kurzer Zeit eine »Aufzucht« war und jetzt zu einem Grab geworden ist.
    Und dann sagt sie leise: »Das Fleisch … Es stammte vom Sohn des Diakons.«
    Ich wende mich ab. Plötzliche Übelkeit erfasst mich, und ich kann sie nicht unter Kontrolle halten. Ich übergebe mich, ich spucke eine stinkende Flüssigkeit, die mir in der Kehle brennt. Adèle hält mich fest, damit ich nicht in meiner eigenen Kotze ausrutsche und falle. Alles fließt aus mir heraus, bis auf die Erinnerung an jenes Fleisch.
    Schließlich hebe ich den Kopf und wische mir mit dem Handrücken den Mund ab.
    »Können Sie ein Gebet für die Kinder sprechen?«, flüstert Adèle.
    »Ja.«
    »Gib ihnen die ewige Ruhe, o Herr, und das ewige Licht leuchte ihnen. Lass sie ruhen in Frieden. Amen.«
    Warum fühle ich mich so falsch bei diesen Worten?
    Warum habe ich das Gefühl, dass ich der Sünder bin und nicht die Frau neben mir?
    »Allmächtiger Gott«, sage ich, »hab Erbarmen mit ihnen, und mit denen, die ihnen und ihren Kindern Schlimmes antaten. Es sind nicht ihre Sünden, die Deine Strafe verdienen. Gib ihnen in Deiner immensen Barmherzigkeit die Chance, bei Dir den Frieden zu finden, den sie auf dieser Erde vergeblich gesucht haben.«
    »Amen«, sagt Adèle. »Und jetzt gehen wir, Pater. Die Zeit wird knapp.«
    Als wir in den Speisesaal zurückkehren, ist dort – wie ich befürchtet habe – bereits das Schlimmste geschehen. Alle Bewohner der Stazione Aurelia liegen wie zerbrochene Puppen auf dem Boden. Es gibt kaum Blut an ihnen. An der Wand lehnen drei Spitzhacken, eine von ihnen beschädigt.
    Ich wende mich Adèle zu und rechne mit Entsetzen in ihrem Gesicht. Immerhin hat sie lange Zeit in dieser Gemeinschaft gelebt.
    Aber nichts dergleichen. Keine Reaktion. Sie bleibt kühl und beherrscht, als hätte sie so etwas erwartet:

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