Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
nahm sie ernst. Wir hielten es einfach nur für Gerede. Aber offenbar meinte sie es ernst. Mein Gott! Was soll jetzt aus uns werden?«
Durand schneidet eine Grimasse.
»Eins steht fest: Ihr könnt nicht zum Neuen Vatikan. Früher oder später käme die Wahrheit heraus. Und ich habe euch gesagt, was die Kirche von euren … Angewohnheiten hält. Wenn jemand anfinge, im Metro-Tunnel zu graben … Die Heilige Inquisition ist neu gegründet worden, und ihre Methoden sind schrecklich. Der Kardinal-Camerlengo geht gnadenlos gegen alle Abweichungen von der wahren Lehre vor. Ihr müsst woanders hin.«
»Wohin?«, rufen mehrere Zivilisten. »Wohin sollen wir gehen?«
Durand hebt und senkt die Schultern.
»Weg von der Stadt. Und haltet euch auch vom Meer fern. Das Meer ist … gefährlich.«
Ich nehme mir vor, ihn nach dem Grund für diese Worte zu fragen. Und nicht nur danach. Warum hat er all diesen Unsinn erzählt, über die Heilige Inquisition und Albani?
Und dann gibt es da noch eine andere Sache. Die schrecklichste von allen. Inzwischen dürfte klar sein, welche Sünde die Frau des Diakons veranlasst hat, sich selbst und alle anderen Bewohner der Station dem Tod preiszugeben. Aber die Kirche hat Schlimmeres verziehen. Sie hat Mörder vom Kaliber eines Alessandro Mori hingenommen, ohne dass sich ein Skandal daraus ergab. Was ist schlimmer: jemanden aus Habgier zu ermorden oder aus Hunger zu töten? Die Kirche braucht neue Leben, neue Kraft. Die Calixtus-Katakombe wäre problemlos imstande, diese Leute aufzunehmen. Und drei oder vier Tage zu verlieren … Dadurch wäre unsere Mission nicht in Gefahr geraten.
Ich nähere mich Durand.
»Ich muss mit Ihnen reden«, sage ich leise.
»Ich höre.«
»Nicht hier. Unter vier Augen.«
»Für diesen Unsinn haben wir keine Zeit. Es wird bald dunkel, und dann müssen wir aufbrechen. Bis zum nächsten Zwischenstopp ist es ein weiter Weg.«
»Diese Leute, Hauptmann …«
»Es sind nicht meine Leute, Pater. Und auch nicht Ihre. Fühlen Sie sich nicht für sie verantwortlich. Bedauerlich ist nur, dass wir einen ausgezeichneten Stützpunkt verlieren. Diese Menschen verdienen es nicht, dass man ihnen nachweint. Oder dass man sich Sorgen um sie macht.«
»Wir sollten sie zum Neuen Vatikan bringen.«
» Sollten wir das?«
Sarkasmus und Ärger erklingen in Durands Stimme.
»Und wer von uns sollte diese Aufgabe übernehmen? Sie vielleicht, Pater? Sie hätten sich fast von den Muskeln erwischen lassen. Es liefe darauf hinaus, dass meine Männer und ich unser Leben für diese Leute riskieren müssten, und dazu habe ich keine Lust. Die hiesigen Viertel sind nicht so schlimm wie das Zentrum der Stadt. Es dürfte nicht weiter schwer sein, irgendwo in der Nähe einen anderen Unterschlupf zu finden. Und wenn sie ihre Vorräte rationieren, schaffen sie es vielleicht sogar bis zum Castello. Das ist einer unserer Vorposten, nur zehn Kilometer von hier entfernt.«
»Ein Spaziergang. Denken Sie daran, dass diese Leute ihre Zuflucht seit zwanzig Jahren nicht verlassen haben.«
»Und wenn schon. Packen Sie Ihre Sachen, Pater. Wir brechen gleich auf. Und denken Sie nur nicht daran, bei diesen Leuten zu bleiben. Sie haben einen sehr guten Überlebensinstinkt; man könnte sagen, er ist messerscharf . Und für diese Gemeinschaft sind Sie ein Fremder. Frisches Fleisch …«
Offenbar ist mir mein Entsetzen deutlich anzusehen, denn einen Teil davon sehe ich in den Augen des Hauptmanns reflektiert. Ich versuche mich zu erinnern, ob auch er das Fleisch gegessen oder sich auf den Fisch beschränkt hat. Dabei fällt mir mit erbarmungsloser Deutlichkeit ein, dass ich gleich zwei Scheiben von dem köstlichen Fleisch gegessen habe. Das war also der Grund, warum mir Adèle Lombard nicht die Aufzucht gezeigt hat, von der das Fleisch stammt. Und das bedeutet …
Ich denke an die Geräusche, die ich in der Nacht gehört habe, an das Klagen und Jammern.
Ich sehe die junge Frau an. Adèle weicht meinem Blick nicht aus, scheint nicht im Geringsten eingeschüchtert zu sein.
»Was wollen Sie, Pater Daniels?«
Ich spüre, dass meine Stimme zittern könnte, und deshalb versuche ich, möglichst ruhig zu sprechen.
»Sie haben mir noch nicht alles gezeigt.«
»Was wollen Sie sehen?«
»Ihre Aufzucht . Wir haben darüber gesprochen, erinnern Sie sich?«
10
DIE FELDER DES HERRN
»Was Sie sehen wollen … Es wird Ihnen nicht gefallen.«
»Ob es mir gefällt oder nicht, ich muss es sehen.«
»Ich verstehe
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