Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
nicht, warum.«
»Das sage ich mir auch. Dass ich nicht verstehe . Und deshalb muss ich es mir ansehen. Ich muss Bescheid wissen .«
»Wie Sie wollen.« Adèle Lombard öffnet eine weitere Tür und murmelt einige Worte, die ich nicht verstehe. Sie klingen verärgert, fast zornig.
Der Korridor hinter dieser Tür ist dunkel, und ich nehme einen unangenehmen Geruch wahr, halb verborgen hinter dem von Desinfektionsmitteln. Nach und nach gewöhnen sich meine Augen an die Finsternis, die nicht vollständig ist. Das Licht aus dem Zimmer hinter uns zeigt weiße, reglose Bündel auf dem Boden.
Eines von ihnen reagiert auf das Licht und bewegt sich.
Ich habe den Eindruck, eine große Schnecke kriechen zu sehen. Doch dann öffnet die Schnecke die Augen.
Im Priesterseminar habe ich einen alten Priester sagen gehört, Kinder seien wie Blumen auf den Feldern des Herrn. Ich bin froh, dass er jetzt nicht hier ist und die schreckliche Ernte dieses Feldes sieht. Diese armen Geschöpfe, blind geworden von der langen Dunkelheit, in ihren Exkrementen liegend, wie Schweine. Hat es jemals auch nur eine freundliche Geste für sie gegeben? Sind die Menschen, die sie auf diese Weise behandelt haben, nie auf den Gedanken gekommen, dass das Licht Gottes auch in ihnen sein könnte?
Nach all dem, was hinter mir liegt, nach dem Schmerz über den Verlust meiner Eltern und den Tod vieler anderer Menschen … Ich hätte nicht gedacht, nach all diesem Leid noch so sehr weinen zu können. Doch die Tränen wollen nicht versiegen, sie strömen mir über die Wangen und fallen auf den Boden voller Dreck, während ich an den Wahnsinn denke, der dieses Grauen hervorgebracht hat.
Adèle verflucht mich und nennt mich verrückt, als ich sie frage, ob sie diese Idee gehabt hat.
»Ich bin vor drei Jahren hier angekommen. Marc hat mich hierher gebracht. Er warnte mich vor dem, was mich erwartete, aber trotzdem … Es war schrecklich.«
Sie beugt sich über eins der Geschöpfe. Es ist mager und ausgezehrt, hat vier Arme und Augen blau wie Kornblumen.
»Ein Junge«, sagt Adèle, als könne sie meine Gedanken lesen.
Der Prozentsatz von Missbildungen bei den Geburten in dieser Gemeinschaft beträgt hundert. Als die Bewohner der Station allmählich begriffen, dass keine normalen Kinder mehr geboren wurden, glaubten sie sich vom Fluch der Zigeunerin getroffen.
»Es wäre natürlich absurd gewesen, wertvolles Protein zu vergeuden. Deshalb nahmen bis auf den Vater und die Mutter alle an dem teil, das wir – bitte erschrecken Sie nicht, Pater – Kommunion des Fleisches nennen …«
Einige der Kinder haben Verstümmelungen, mit denen sie nicht geboren sind. Hier fehlt ein Arm, dort ein Bein …
»Allmächtiger Gott …!«
Eine kleine Hand streckt sich meiner Hose entgegen und ergreift den Stoff. Es ist eine Hand mit sieben Fingern.
Ich glaube, nie zuvor hat mich Gott so sehr auf die Probe gestellt wie in diesem Moment. Nach den Lehren der Kirche ist jedes Leben heilig, und sie verbieten das Töten. Doch in diesem Augenblick gehorche ich einer Autorität, die über der Kirche steht. Ich gehorche meinem Gewissen.
Das Jammern der Kinder zerreißt mir das Herz.
»Leiden sie?«, frage ich Adèle.
»Natürlich leiden sie.«
»Dann befreien Sie sie. Ich beschwöre Sie, befreien Sie die Kinder von ihrem Leid«, flüstere ich und wende den Blick von der unförmigen Hand ab.
»Sind Sie sicher, dass Sie das wollen?«
»Ja. Ich bitte Sie, Doktor Lombard.«
Adèle holt eine Spritze mit langer Nadel hervor, streicht so behutsam wie möglich die Lumpen beiseite, sticht dem Geschöpf dann in die Brust und drückt den Kolben ganz hinunter. Die Spritze ist leer – Luft dringt ins Herz. Die Augen des Kindes werden groß, und plötzlich erstarrt es.
Leise spreche ich ein Gebet und berühre dann mit dem Daumen die goldene, warme Flüssigkeit in dem metallenen Fläschchen, das ich bei mir trage. Es ist Öl, ein kostbares Relikt der Vergangenheit. Ich weiß nicht, ob es sich um Olivenöl handelt. Genießbar ist es ohnehin nicht mehr, aber es hat enormen symbolischen Wert.
»Das nächste Kind«, flüstere ich.
Zehn Minuten später ist es geschafft. Die acht Geschöpfe dieser monströsen »Aufzucht« liegen für immer reglos.
»Für jemanden, der am Schicksal dieser Leute Anteil nimmt, handeln Sie nicht unbedingt rational«, sagt Adèle resigniert und schließt die schwere Stahltür hinter uns. »In zwei Tagen sind sie faules Fleisch. Wenn sie am Leben geblieben
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