Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Kern unserer Existenz. Unsere Aufgabe besteht darin, die Botschaft Christi in alle Ecken der Welt zu tragen.«
Ich könnte ihm antworten, dass die Rückkehr hierher, zu diesem Friedhof aus einer Zeit, als sich die Kirche Verfolgungen ausgesetzt sah und ihre Anhänger Löwen zum Fraß vorgeworfen wurden, ein großer Schritt zurück ist. Wie bei dem alten Brettspiel, bei dem ein falscher Würfelwurf dazu führt, dass man zum Ausgangspunkt zurückkehrt.
»In den letzten fünf Jahren haben wir eine stabile Basis außerhalb dieser Mauern eingerichtet. Und in den letzten beiden ist es uns gelungen, eine Reihe von Vorposten zu schaffen, im Norden bis nach Ancona. Die Stadt ist fast menschenleer, aber noch intakt, und sie hat sich als eine wertvolle Quelle an Ressourcen erwiesen. Von dort aus konnten wir Kontakt mit zwei anderen Gemeinschaften von Überlebenden aufnehmen, die größere von ihnen in Ravenna. Auch diese Stadt scheint während des Leids und danach kaum beschädigt worden zu sein. Es ist seltsam …«
»Was ist seltsam?«
»Als das Römische Reich zu Ende ging, wurde Ravenna zu einem der letzten Vorposten der Zivilisation. Der Fall Roms machte Ravenna zur Hauptstadt.«
Wir kehren zum Arbeitszimmer des Kardinals zurück, zu dem Raum, der einst das Grab einer Heiligen war. Es ist ein sonderbar absurder Gedanke, dass die sterblichen Überreste der heiligen Cäcilia hier unten vielleicht intakt geblieben wären. Aber zu Beginn des neunten Jahrhunderts war der Leichnam zur Basilika Santa Cecilia in Trastevere gebracht worden, und jene Kirche ist heute ein Trümmerhaufen. Das Leid hat die Reliquie der Heiligen in Staub verwandelt.
»Nehmen Sie Platz«, sagt Albani.
Als wir sitzen, öffnet er eine Schublade des Schreibtischs und holt eine Ledermappe hervor, etwa so groß wie ein früheres Portemonnaie.
»Hier sind Ihre Referenzen und die Reise-Order, die Sie ermächtigen, in den von der Kirche kontrollierten Territorien auf jede mögliche Hilfe zurückzugreifen. Die Mappe enthält auch einen Brief an die Kirche von Ravenna. Bischof Giuliano wird Ihnen und Ihren Begleitern alles zur Verfügung stellen, was Sie für den letzten Teil der Reise brauchen. Und da wir gerade dabei sind … Ich glaube, es wird Zeit, dass ich Ihnen Ihre Reisegefährten vorstelle.«
2
DURCH DEN STAUB
Wir wandern durch Gänge, einige von ihnen eintausendsechshundert Jahre alt, andere gerade erst gegraben. Sie führen in verschiedene Richtungen, was meinen Orientierungssinn auf eine harte Probe stellt. Manche dieser Korridore sind recht breit, mit Grabnischen und den Öffnungen anderer Gänge in den Wänden. Andere sind so schmal, dass man in ihnen das Gefühl bekommt zu ersticken. Der Camerlengo geht erstaunlich schnell für einen so korpulenten Mann. Nach zwanzig Jahren kennt er sich hier unten vermutlich so gut aus, dass er sich sogar mit verbundenen Augen zurechtfinden könnte. Die Kongregation für die Glaubenslehre, deren einziges Mitglied ich bin, hat ihren Sitz weit von hier entfernt, in der sogenannten Regione Liberiana der Katakomben, nördlich der Tunnel, in denen wir nach Osten unterwegs sind, wenn mich mein Orientierungssinn nicht trügt. Im matten Licht der wenigen Öllampen, die einen Teil der Dunkelheit aus dieser unterirdischen Welt vertreiben, sehe ich Spuren von Fresken, glänzenden Marmor und Worte, vor sechzehn Jahrhunderten von frommen Händen in den Stein geritzt. Einige dieser Grabinschriften habe ich nach der Übersetzung aus dem Lateinischen auswendig gelernt. Zum Beispiel die Worte auf Valentinas Grabstein, von ihren Eltern geschrieben: »O Valentina, du Süße und Vielgeliebte, ich kann nicht aufhören zu weinen, und mir fehlen die Worte. Wem du dein Lächeln geschenkt hast, der trägt es im Herzen und vergießt noch mehr Tränen, denn es kann den Schmerz nicht lindern. Unversehens raubte dich der Himmel.« Oder die des kleinen Acuziano, der »etwa zehn Jahre lebte. Ruhe verdient in Frieden. In diesem Grab liegt ein Junge, der trotz seines geringen Alters mit kluger Zunge sprach. Ein Lamm, vom Himmel entführt und Christus gewidmet.«
Wenn wir auch nur die Initialen der Namen aller Kinder schreiben wollten, die durch das Leid umgekommen sind – die Wände dieser Katakomben böten nicht genug Platz. Nur wenige von ihnen wurden bestattet. Einer unserer Kundschafter hat davon berichtet, wie seine Gruppe eines Tages bei der Suche nach Lebensmitteln in einem Kindergarten ein Zimmer voller Kinderknochen fand. Ein
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