Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Tagen oder Wochen nicht gewaschen haben. Der Gestank wetteifert mit dem allgegenwärtigen Geruch von Erde und Schimmel, und mir stockt fast der Atem.
Die Leute husten und sprechen leise miteinander. Hier unten ist niemand laut, und alle bewegen sich langsam in der allgemeinen Enge, die mehr der Kabine eines Schiffs ähnelt als einem Haus.
Besonders vermisse ich Musik. Als ich – noch vor dem Leid – durch die Straßen von Rom gewandert bin, war die Musik wie ein kontinuierlicher Strom, in dem man sich treiben lassen konnte, im Rhythmus der Stadt: Musik aus den Cafés, aus den offenen Fenstern der Autos. Stimmen von Frauen, die Wäsche zum Trocknen aufhängten, an Leinen, die weit oben Gassen überspannten. Überall erklang Musik; sie lag in der Luft, die man atmete.
Doch in diesen Gewölben ist es still. Man hört nie jemanden singen. Nie erklingt eine Melodie, als hätte jemand Musik verboten. Als wären wir alle in einer Trauer, in der es für Musik keinen Platz gibt.
Aber auch hier unten gibt es Freuden.
In manchen besonders dunklen Ecken stehen Paare, fast immer Mann und Frau, dicht aneinandergeschmiegt. Die Bewegungen und das Stöhnen sind unmissverständlich. Albani bleibt völlig gelassen.
»Kennen Sie den Ursprung des italienischen Verbs fornicare , Unzucht treiben?«
»Nein, Eminenz.«
Wir treten über einen zerlumpten Schlafsack hinweg, in dem zwei eng umschlungene Körper stecken.
»Dann habe ich eine Überraschung für Sie.«
Ich frage mich, ob er nur redet, um von dem abzulenken, was um uns herum geschieht, von den permanenten und freudigen Verstößen gegen das sechste Gebot.
Albani lächelt. Das gelbliche Licht einer Lampe gibt seinem Gesicht eine kranke Farbe; er sieht plötzlich aus wie ein lebender Toter.
»Als kleiner Junge hörte ich den Priester von der Kanzel ›non fornicare‹ sagen, und ich dachte, es hätte irgendetwas mit Ameisen zu tun, die im Italienischen formiche heißen. Doch dann erklärte mir der Geistliche, damit sei ›keine Unzucht treiben‹ gemeint.«
»Im Englischen gibt es keine doppelten Bedeutungen dieser Art. Das sechste Gebot lautet: Thou shalt not commit adultery. Du sollst keinen Ehebruch begehen.«
»Ja. Doch die Sache ist nicht so einfach. Man muss dabei den historischen und kulturellen Kontext berücksichtigen, in dem die Gebote entstanden. Das hebräische Nef bezieht sich nicht nur auf Ehebruch. Die Kirche hat dieser Interpretation Vorrang gegeben, wegen der Verbreitung des Ehebruchs bei der monogamen Ehe. Doch im polygamen Umfeld, in dem die Zehn Gebote geschrieben wurden, bedeutete das Wort Na’af nicht nur Ehebruch, sondern jede Verfälschung des Verhaltens von Mann und Frau der eigenen Person oder anderen Menschen gegenüber. Ein Nef ist also ein Ehebrecher, Schurke und Betrüger, ein sittenloser Mensch, der gegen alle Arten von Regeln verstößt, auch sexuelle, aber nicht nur.«
Albani bleibt stehen. Eine aus zwei Männern und einer Frau bestehende Streife grüßt ihn, indem sie ihre langen Knüppel heben und kurz an die Mützenkappen klopfen. Es ist eine respektvolle Geste, und gleichzeitig ist sie auch respektlos.
Der Kardinal seufzt.
»Ich wollte Ihnen vom Ursprung des Verbs fornicare erzählen. Es geht auf das lateinische Wort fornix zurück: Bogen, im Sinne eines architektonischen Elements. Die Prostituierten boten ihre Dienste unter den Bögen der Arkaden an. Daher kommt das Verb.«
»Also hat es nichts mit Ameisen zu tun.«
»Nein. Interessant, nicht wahr?«
Wir kommen durch einen besser beleuchteten Bereich. In diesem überfüllten Zimmer stehen Bänke mit Waren, mit Kleidungsstücken und Dingen, die aus der Zeit vor dem Krieg stammen. Sie liegen auch in den Nischen, die einst den frühen Christen als letzte Ruhestätte dienten. Eine von ihnen ist gefüllt mit alten Comics und pornografischen Zeitschriften. Der Kardinal geht mit schnellen Schritten, ohne zur Seite zu sehen. Seine Fettleibigkeit weckt weder Respekt noch Frömmigkeit. Er trägt einen Overall, wie wir alle; nur die purpurrote Mütze weist darauf hin, wer er ist. Sie und seine zusätzlichen Kilos. Hier unten sind alle mager und im Großen und Ganzen gesünder als die Menschen vor dem Leid. Cholesterin, Zigaretten oder Autounfälle sind nicht mehr die wichtigsten Todesursachen. Und doch stirbt es sich heute schneller als früher. Mein Professorenfreund hat mir einmal gesagt, dass heutzutage die meisten Menschen an zu viel Entspannung sterben – der Tod holt sie, weil
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