Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
einer leeren Seite blättere ich und sehe dabei Dinge, von denen ich hoffe, dass ich sie schnell wieder vergesse. Es ist der unwiderstehliche Drang zu schreiben, der mich veranlasst hat, Maxims Notizbuch zur Hand zu nehmen.
Ich schreibe:
Die Nacht ist dieses Dunkel, durch das wir unterwegs sind, eine vom Licht unserer Scheinwerfer durchschnittene Schwärze.
Sie kommt einem magischen Ort gleich, diese Finsternis. Jeder blattlose Zweig und jeder Stein kann für einen Moment wie eine Gefahr aussehen.
Die Finsternis steckt auch in unseren Herzen. So sehr wir auch versuchen, sie daraus zu vertreiben, sie hat sich in uns festgesetzt, ist zu einem Teil von uns geworden. Wie das Blut, das in unseren Adern fließt, oder wie die Lunge, die die giftige Luft dieses Planeten atmet.
Viele Dinge der letzten Tage – beziehungsweise Nächte – haben mich nachdenklich gemacht.
Dazu gehört auch das viele Blut, das wir hinter uns zurücklassen. Aber das ist nicht einmal der wichtigste Punkt. Eine Frage beschäftigt mich ständig und sucht mich selbst im Schlaf heim: Wie kann Gott so etwas zulassen? Ich habe mich sehr bemüht, Ihn in dem zu sehen, was um mich herum geschah und geschieht, aber es fällt mir immer schwerer. Wenn die Welt Gottes Schöpfung ist, so kann ich mir nicht vorstellen, dass sich Sein Werk auf den Akt der Schöpfung beschränkt; ich will glauben, dass Er sich auch wie ein guter Vater um die Bewohner der Welt kümmert. Aber wie kann ich annehmen, dass Er für dies alles verantwortlich ist, für den Tod, die furchtbaren Krankheiten, all das Leid? Wie soll ich an Seine Schöpfung glauben, wenn das, was Er angeblich erschaffen hat, so schrecklich ist? Man nehme das Licht, das tödlich geworden ist. Oder das vergiftete Wasser. Wie kann Gott …
»Was schreibst du da?«
Durands Stimme erschreckt mich so sehr, dass ich zusammenzucke. Tinte kleckst auf die Seite. Die Stifte, mit denen wir schreiben, sind keine besonders stabilen Konstruktionen, und die Tinte, mit denen wir sie füllen, ist von sehr schlechter Qualität. Vermutlich dauert es nicht mehr lange, bis wir auf Federkiele zurückgreifen müssen. Allerdings … Es gibt keine Gänse mehr, von denen wir solche Federkiele gewinnen könnten.
»Nichts«, sage ich.
Er beobachtet mich im Rückspiegel. In weniger als einer Stunde soll ihn Wenzel am Steuer ablösen, aber er scheint keineswegs müde zu sein. Obwohl es seit einer ganzen Weile schneit und die kurvenreiche Straße große Aufmerksamkeit verlangt.
»Du schreibst doch was. Das Kratzen, das ich gehört habe … Es hält mich zwar wach, aber es nervt auch.«
»Es ist nichts Besonderes.«
»Du willst mir also nicht sagen, was du schreibst.«
»Das ist meine Angelegenheit. Meine Gedanken und Überlegungen.«
»Zum Beispiel?«
»Nichts weiter.«
»Nichts …« Durand seufzt. »Ich dachte, du berichtest von unseren guten Taten.«
»Wenn ich eine sehe, schreibe ich sie auf, das verspreche ich.«
»Bisher hast du keine gesehen?«
»Ich habe den Tod gesehen, und zwar recht oft.«
»Wir haben ihn nicht gebracht, den Tod.«
»Sag das den Leuten in der Stazione Aurelia.«
Durand schweigt eine Zeit lang und schüttelt dann den Kopf.
»Was hätten wir mit ihnen machen sollen? Sie gehen lassen? Sollten sie verhungern oder, schlimmer noch, draußen sterben?«
»Auf diese Weise habt ihr nicht riskiert, dass es einer von ihnen bis zum Neuen Vatikan schafft …«
Durand scheint die Ironie in den Worten gar nicht zu hören.
»Keiner von ihnen hätte überlebt. Was wir mit ihnen gemacht haben, war ein Akt der Barmherzigkeit.«
»Das sehe ich ein wenig anders.«
Es vergehen mindestens drei Minuten, ohne dass jemand von uns etwas sagt.
Das Schweigen bekommt Gewicht und lastet schwer auf uns.
Schließlich brummt Durand: »Nun? Willst du mir wirklich nicht verraten, was du schreibst?«
»Nein.«
»Blödmann«, knurrt er leise.
Ich reagiere nicht darauf.
20
DIE VERBOTENE STADT
Die nächste Etappe ist wundervoll. Nicht nur wegen der Schönheit der hügeligen Landschaft, die vom Krieg natürlich nicht verschont worden ist, sich aber einen Teil ihres Reizes bewahrt hat, sondern vor allem wegen des Rauchs, der von vielen Dächern aufsteigt, und wegen der anderen unverwechselbaren Anzeichen von Leben, die wir schon von Weitem sehen. Sicher, auch ein Brand schickt Rauch gen Himmel, aber nicht auf diese Weise. Die Stadt ist bewohnt. So viel ist klar, als wir sie im schwachen Licht des Morgengrauens
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