Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Schnee gibt in Zeitlupe unter meinen Stiefeln nach. Ich gehe weiter, bis ich mitten unter den Wesen bin; das letzte von ihnen ist eine Frau, die mich – ich bin verblüfft – anlächelt und mir einen Knochen entgegenstreckt, an dem noch Fleischfetzen hängen. Doch dann wird sie von gleich drei Kugeln getroffen und an die Mauer geworfen. Von einem Augenblick zum anderen kehrt alles zurück: normaler Zeitablauf, der Geruch von Blut und Schießpulver. Ich stehe inmitten der toten Wesen, an meiner Seite Diop mit schussbereiter Pistole.
»Wie gesagt, Priester: Es gibt schrecklichere Waffen als Atombomben.«
Diop und Rossi drehen die Geschöpfe und geben einem von ihnen den Gnadenschuss. Sie bewegen sich fast elegant, wie in einem sonderbaren Tanz, während meine Bewegungen unbeholfen sind. Ebenso unbeholfen gebe ich den Toten die Letzte Ölung.
Eine grobe Hand packt meine Schulter und zieht mich zum Hummer zurück.
»Na, was sagst du dazu , John? Hältst du es noch immer für falsch, dass ich diese Wesen erschieße? Mach dir keine Sorgen um sie. Es gibt immer neue von ihnen. Dies hier ist eine Art Bienenstock für sie. Wenn du morgen zurückkehrst, wirst du zehn weitere antreffen, die vom Fleisch der Toten schmausen und ihre Lumpen übergestreift haben. Sie sind wie Ameisen.«
»Es ist schrecklich …«
»Da bin ich ganz deiner Meinung. Es ist schrecklich. Und die einzige Medizin, die wir für sie haben, ist eine Kugel.«
»Warum lasst ihr sie nicht in Ruhe?«
Durand stößt mich mit dem Rücken an die Mauer, und für einen Moment fürchte ich um mein Leben.
»Verdammter Pfaffe«, zischt er, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. »Wofür bezahlt man uns wohl? Was glaubst du, welchem Zweck die Schweizergarde dient? Wir erledigen die schmutzige Arbeit, damit ihr in euren unterirdischen Löchern ein einigermaßen bequemes Leben führen könnt. Wir sorgen dafür, dass die Straßen sicher sind und Handel möglich ist. Wir schaffen eine neue Ordnung, Grundlage für eine Welt, die besser ist als diese. Du hast kein Recht, das zu kritisieren, was ich tue. Wag es nur nicht!«
»Hör auf, Marc. Lass ihn, ich bitte dich.«
Die Worte stammen von Adèle, und sie spricht sie sanft, aber nicht ohne einen gewissen Nachdruck. Sie legt die Hand auf den Arm des Hauptmanns, und Durand lässt mich los.
»Pater Daniels … John … Er weiß nicht, wie es hier draußen zugeht. Hab Geduld mit ihm, Marc. Er wird Erfahrungen sammeln und lernen, wie wir vor ihm.«
Durand schüttelt den Kopf. In seinen Augen brennt noch immer Zorn.
Abrupt wendet er sich ab und stapft fort.
Adèle seufzt.
»Alles in Ordnung?«
»Ich denke schon«, antworte ich.
»Marc ist ein guter Kerl. Er tut das, was er für richtig hält. Vergiss nicht, dass er dir das Leben gerettet hat, so wie mir.«
Ich sehe sie an. Ihre Stimme wirkt fast ebenso hypnotisch wie die Augen jener Geschöpfe.
»Gehen wir«, sagt Adèle. »Wir dürfen nicht noch mehr Zeit verlieren.«
Sie ist schön, Adèle Lombard. Schön und voller Frieden. Wenn es nur sie gäbe, wenn ich nichts anderes sähe … Dann könnte ich mir fast einreden, dass es für die Welt noch Hoffnung gibt.
Ich drehe den Kopf, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerke.
Das Fenster im dritten Stock ist leer wie die Augenhöhle eines Totenkopfs.
Doch für einen Moment habe ich im letzten flackernden Licht des Leuchtstabs dort oben ein Gesicht gesehen. Das Gesicht einer Gestalt, die frappierende Ähnlichkeit mit einem geflügelten Wasserspeier hat, einem Gargoyle. Die Augen des Monstrums starrten auf Adèle hinab. Und in diesen Augen glühte ein Hass, wie ich ihn in dieser Intensität nie zuvor gesehen habe.
Später schläft Adèle, den Kopf ans Fenster des Wagens gelehnt.
Das Herrliche an dem Hummer ist die Wärme. Wir sitzen in ihm wie in einem schützenden Schoß. Die aus den Öffnungen der Klimaanlage strömende Luft ist mehr als zwanzig Grad warm – ein unglaublicher Luxus. Man möchte immer auf diese Weise unterwegs sein, von angenehmer Wärme umhüllt und dem beruhigenden Brummen der Motoren begleitet.
Ich hole Maxims Notizbuch aus der Jackentasche.
Das mache ich sonst nie, denn seine Zeichnungen beunruhigen mich. Vor allem jetzt, da ich weiß: Die Bilder der Geschöpfe sind keineswegs das Produkt von Maxims überschäumender Fantasie – solche Wesen treiben sich tatsächlich dort draußen herum, in der Dunkelheit hinter den Fenstern des Hummers.
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