Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
beobachten.
»Gut«, sagt Durand und lässt den Feldstecher sinken. »Scheint alles in Ordnung zu sein.«
»Hältst du es für sicher, hier haltzumachen?«, fragt Wenzel.
»Wir sind noch nie hier gewesen. Der erste Eindruck ist gut, aber er könnte täuschen. Auf jeden Fall würde ich den Tag lieber dort verbringen als hier im Freien. Habt ihr seltsame Spuren bemerkt? Wie zum Beispiel die eines großen Lasters?«, fragt er die Späher, die sich die Stadt aus der Nähe angesehen haben.
»Nein«, antworten sie.
Die Stadt heißt – oder hieß – Urbino. Es ist ein sehr alter Ort, bewohnt seit den Zeiten des Römischen Reichs. Der Name geht auf die lateinischen Wörter urbs bina – doppelte Stadt – zurück, denn ursprünglich wurde die kleine Stadt auf zwei Hügeln erbaut. Informationsbrocken aus Zeitungen und Reiseführern, die ich vor zwanzig Jahren gelesen habe.
Ein großes Gebäude durchzieht den Ort, und die anderen Häuser scheinen Erweiterungen dieses einen Bauwerks zu sein. Urbino war der Sitz der Familie Montefeltro, einer der mächtigsten Familien im Italien der Renaissance, zerrissen von Fehden und aufgeteilt in Gemeinden und Fürstentümer.
Der Palazzo existiert noch und ist sehr eindrucksvoll. Auch der Rest der Stadt scheint kaum beschädigt zu sein. Hier und dort sind Mauern von Feuer rußgeschwärzt, und großkalibrige Geschosse haben an den Fassaden mancher Häuser unübersehbare Spuren hinterlassen. Aber den Ort so zu sehen … Es ist, als ob ich eine von Maxims Postkarten betrachte. Der Zahn der Zeit hat daran genagt, und die Farben sind so sehr verblasst, dass man das Bild für ein Schwarzweiß-Foto halten könnte. Doch einige Details, wie zum Beispiel die beiden symmetrischen Türme auf der einen Seite des Gebäudes, sind atemberaubend klar. Es ist unglaublich, dass so viel Schönheit das Ende der Welt überstehen konnte.
Dann lässt ein Windstoß irgendwo eine Glocke erklingen, und das kurze Läuten ist so schaurig, dass es mir kalt über den Rücken läuft.
Das erste Licht des Tages erreicht den Nebel unten im Tal, einen Nebel, der sich wie ein graues Grabtuch auf die Landschaft gelegt hat.
Wir verlassen den Hügel, auf dem wir haltgemacht haben, um die Stadt zu beobachten. Wir fahren langsam, denn an mehreren Stellen haben Erdrutsche die Straße halb verschüttet, und die Löcher im Asphalt, manchmal mehr als einen Meter groß, sind nur notdürftig repariert und mit Kies gefüllt. Nach der letzten Kurve sehen wir uns dem großen Platz unterhalb der Stadt gegenüber.
Die Motoren der beiden Hummer brummen ruhig vor sich hin, doch in der Stille erscheint mir das Geräusch viel zu laut. Ich spüre, wie mir der Nacken zu jucken beginnt.
Durand steigt aus. Nach kurzem Zögern folge ich seinem Beispiel, und Adèle schließt sich mir an. Ich gehe davon aus, dass uns Wächter beobachten; vielleicht wirkt es beruhigend auf sie, eine Frau unter uns zu sehen.
Oder auch nicht. Es hängt von der Denkweise der hier lebenden Leute ab.
Wenn man dort draußen einem anderen Menschen begegnet, weiß man nie, was einen erwartet, hat mir einmal jemand gesagt, als er von einem Erkundungseinsatz zurückkehrte. Ich habe ihn gefragt, ob er beichten wolle, und der Mann – ein Alter, um die vierzig – schüttelte den Kopf.
Jedes Mal, wenn man dort draußen jemandem begegnet, muss man ihn aufmerksam beobachten, denn wenn man einen Fehler macht, wenn man den Fremden falsch einschätzt, ist man so gut wie tot. Einmal haben wir einen kleinen Ort bei Pescara erreicht und dort drei Familien angetroffen, die uns für den Tag bei sich aufnahmen. Es schienen recht freundliche Leute zu sein. Aber an jenem Tag, als wir schliefen, schnitten sie dem Wächter die Kehle durch. Vermutlich hätten sie uns alle erwischt, wenn der junge Vichi nicht misstrauisch gewesen wäre. Er gab Alarm, und es gelang uns, die Angreifer zu erledigen. In ihrem Keller fanden wir einen unglaublichen Schatz: Waffen, Goldmünzen, Lebensmittel, Munition …
Ich könnte dir Geschichten erzählen …
Wie hieß es früher einmal auf Latein? Homo homini lupus … Doch die richtigen Wölfe wären beleidigt von diesem Vergleich.
Dort draußen lernt man, niemandem zu trauen.
Wir sahen also, wie dieser Mann aus dem Nebel kam, und erst erschien er uns ganz normal. Doch als er uns bemerkte, begann er wie ein Irrer zu heulen …
Es ist besser, sofort zu schießen und erst später zu fragen, oder ganz auf Fragen zu verzichten.
Woher sollte ich es
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