Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)
hatte. Dieses Präludium irgendwo und irgendwann in Raum und Zeit fixieren zu wollen, wäre ein geradezu lächerliches Unterfangen. Bach selbst war sich des abstrakten Wesens seiner Komposition bewusst. Er verweigerte beim Wohltemperierten Klavier sogar die übliche Vorschrift, es auf einem Klavichord, einem Cembalo oder einer Orgel wiederzugeben. Im Grunde sind alle diese Instrumente hinfällige Krücken; „Erdenrest, zu tragen peinlich“, so Bachs eigene Worte.
Bei einem mathematischen Einfall ist es ähnlich. Natürlich ist er mit einer bestimmten Verteilung des Neuronenstroms im Gehirn verbunden und nur dann überhaupt möglich, wenn die körperliche Disposition ihn zu denken erlaubt. Trotzdem ist der Gehalt des mathematischen Einfalls weder im Raum noch in der Zeit fixierbar und von der jeweiligen Person, welche ihn gerade hat, völlig unabhängig.
Umso besser verstehen wir, dass Archimedes keine Sekunde zögerte, als ihm plötzlich einleuchtete, wie man das Gesetz des Auftriebs auf das Problem mit der Krone des Hieron anwenden konnte. Denn als er auf diese Lösung kam, stand sie ihm so klar und manifest vor Augen, dass er gleichsam erschrak, warum noch niemand vor ihm die gleiche Idee gehabt hatte. Denn diese Lösung lag, wie man bildhaft sehr schön formuliert, in der Luft. In diesem Augenblick befiel den ehrgeizigen Archimedes die Furcht, jemand anderer könnte sie ihm vor der Nase wegschnappen – im drögen Syrakus mit seinen an Wissenschaft, gar an Mathematik desinteressierten Kaufleuten und Bauern zwar unbegründet, aber man weiß ja nie. Denn dessen war er sich wie alle ehrgeizigen Mathematiker vor und nach ihm gewiss: Wenn seine Lösung existierte, und zwar vor allen Zeiten und allüberall, dann war der Ruhm des Forschers einzig darin begründet, als Erster hier auf Erden der Welt die Existenz dieser Lösung vor Augen zu führen.
Der Göttinger Mathematiker Hans Grauert behauptete einmal über sein Fach: „Mathematik ist keine Naturwissenschaft und keine Geisteswissenschaft. Mathematiker sind Künstler: Sie schaffen Geistesdinge.“ Allerdings sind die „Geistesdinge“, von denen Grauert spricht, von der Persönlichkeit, die sie „schafft“, unabhängig. Genau genommen ähneln Persönlichkeiten, die Mathematik betreiben, selbst wenn sie sich forschend im Neuland bewegen, eher reproduzierenden als kreativen Künstlern. Auch Gauß, der größte Mathematiker der Neuzeit, hatte seine tiefsten Erkenntnisse, die er mit klingenden Namen wie „theorema egregium“, „theorema elegantissimum“, „theorema aureum“ versah, eher entdeckt als geschaffen. Sie können gar nicht anders als so lauten, wie sie uns Gauß präsentierte. Dies ist beim kreativen Künstler ein wenig anders: Das Kunstwerk ist untrennbar mit seiner Persönlichkeit verknüpft. Es lag einfach in der autonomen Entscheidung des Johann Sebastian Bach, die Harmonien im ersten Präludium des Wohltemperierten Klaviers gerade so und nicht anders aufeinanderfolgen zu lassen. Nun aber ist es da, wir hören es in einer Aufnahme von Rosalyn Tureck, von Friedrich Gulda oder von Till Fellner, und jede dieser Künstlerpersönlichkeiten entdeckt Neues, Unerwartetes in ihm und teilt uns diese Entdeckung mit. Der Leistung dieser Interpreten ist die Tätigkeit der Mathematikerin oder des Mathematikers vergleichbar, wenn man von Mathematik als Kunst spricht.
Wobei, jedenfalls in der großen Kunst, die Grenze zwischen „schaffen“ und „deuten“ fließend ist. Man bedenke: Tolstoi hatte, als er am Ende seines Romans Anna Karenina sterben ließ, bitterlich geweint, so sehr ist ihm der Tod der Heldin, die nichts anderes als eine von ihm geschaffene Figur war, nahegegangen. Mozart verfasste seine Kompositionen so, dass ihm das Kunstwerk in seiner endgültigen Fassung wie in einem einzigen Gedanken bewusst war und er gleichsam nur mehr die Noten „abschreiben“ musste. Michelangelo sah im kruden Marmorblock, den ihm die Arbeiter in sein Atelier stellten, bereits den David ruhen, den er schließlich aus dem Stein löste.
Bei mathematischen Erkenntnissen aber ist die Sache klar: Eine Persönlichkeit findet sie als Erste, ihr kommt der Ruhm des Entdeckers zu. Nach diesem strebt die Forscherin oder der Forscher. Selbst wenn die Erkenntnis nicht gerade weltbewegend ist. Ich selbst habe dies in jungen Jahren eindrücklich erfahren, als ich einmal einen Gedanken, den ich entwickelt hatte, meinem akademischen Lehrer Edmund Hlawka, einem der
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