Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)
Ausgangsdrahtende r genau dann eine Spannung, wenn weder der die Aussage p noch der die Aussage q symbolisierende Draht mit einer Spannung versehen sind. Mit anderen Worten: Nur bei p = 0 und bei q = 0 ist r = 1 , denn r steht für „weder p noch q “, und tatsächlich stimmt r , wenn sowohl p als auch q falsch sind. Ist hingegen p = 1 und q = 0 , oder ist p = 0 und q = 1 , oder ist gar p = 1 und q = 1 , dann ist r = 0 , denn „weder p noch q “ ist falsch, weil ja mindestens eine der beiden Aussagen p oder q wahr ist. 24
Abb. 7: Prinzip des NOR-Gatters: Nur bei p = 0 und bei q = 0 ist r = 1 , denn nur dann leiten die beiden Transistoren nicht den Strom von der Basisspannung U in die Erde. In allen anderen Fällen wird der Strom in die Erde geführt und es ist r = 0 .
Ein paar solcher Schaltungen aufeinandergetürmt, und man kann bereits rechnen wie einst Pascal mit seiner Maschine. 25 Und unzählige Kaskaden derartiger Schaltungen in der richtigen Weise verdrahtet ergeben nichts anderes als eine Zahlenmaschine. Wenn ein Verfahren nach einem Programm abläuft und eindeutig aus einzelnen symbolischen Manipulationen besteht – die Zahlenmaschine kann es nachvollziehen.
Gelernters Skeptizismus und Turings Test
Watson, der Sieger bei Jeopardy gegen Ken Jennings und Brad Rutter, war eine derartige Zahlenmaschine. Eine Fülle von Daten war in ihr gespeichert, die letztlich aus einer gigantisch langen Folge von Ziffern 0 und 1 bestand. Diese Ziffernfolge, umgesetzt in vorhandene Spannung bei 1 und fehlende Spannung bei 0, ist die dubiose Quelle von Watsons „Wissen“. Das technische Meisterwerk besteht darin, damit die Illusion zu erzeugen, die Zahlenmaschine könne wirklich denken.
Redakteure des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ waren von Watson so verzaubert, dass sie sich entschlossen, einen ausgewiesenen Experten dieser Zahlenmaschinen darüber zu befragen. Interviewpartner des „Spiegel“ war David Gelernter, der 1983 mit seinem Kollegen Nicolas Carriero die Programmiersprache LINDA entwickelt hatte, die sich besonders gut für parallel laufende Zahlenmaschinen eignet. Die Kernaussagen des „Spiegel“-Gesprächs mit Gelernter lauteten:
Der Spiegel: „Herr Gelernter, wir suchen einen Begriff. Der amerikanische Journalist Ambrose Bierce umschrieb ihn als ,vorübergehendes Irresein, heilbar durch Heirat‘.Wissen Sie, was gemeint ist?“
David Gelernter: „Keine Ahnung.“
Der Spiegel: „Die Liebe.“
David Gelernter: „Oh, die Liebe.“
Der Spiegel: „Ja, und die Frage stammt aus dem Fundus der TV-Quizshow ,Jeopardy‘.Der IBM-Supercomputer Watson hatte kein Problem, die Lösung zu finden. Dann weiß Watson wohl, was Liebe ist, oder?“
David Gelernter: „Er hat nicht die geringste Ahnung. Die Forschung auf dem Feld der Künstlichen Intelligenz hat nicht einmal angefangen, sich mit Gefühlen zu beschäftigen. Das Problem ist: Wir denken nicht nur mit dem Verstand. Denken kann nur ein Geist, der auch einen Körper hat. Ein Gefühl wie Liebe übersteigt Watsons Fähigkeiten bei weitem.“
Der Spiegel: „Was ist so besonders am menschlichen Gehirn, dass es von einer Maschine nicht nachgebildet werden kann?“
David Gelernter: „Das Gehirn ist radikal anders als ein Computer. Der Computer ist eine rein elektronische Maschine, die aus Halbleitern und anderem Krimskrams besteht. Ich glaube, dass es tatsächlich möglich ist, eine kreative Maschine zu bauen, wahrscheinlich sogar eine Maschine, die halluzinieren könnte. Aber sie würde uns in keiner Weise gleichen. Sie wäre immer eine Täuschung, eine Fassade. Es ist vollkommen plausibel, dass etwa das Modell ,Watson 2050‘einen Poesiewettbewerb gewinnt. Es wird womöglich ein wundervolles Sonett schreiben, das ich schön und bewegend finde und das weltberühmt wird. Aber würde das bedeuten, dass Watson einen Verstand hat, eine Idee von sich selbst? Natürlich nicht. Da ist niemand zu Hause. Da ist nichts drin.“
Ein wenig erinnert David Gelernters Skepsis an die Erkenntnis Blaise Pascals, dass wir nicht bloß nach den Gesetzen der formalen Logik, sondern vor allem „mit dem Herzen“ denken: „Le cœur a ses raisons que la raison ne connaîtpas“, „Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt“.
Und doch vermeinen Minsky oder Moravec in der hinreichend komplex konstruierten Zahlenmaschine so etwas wie echtes Denken zu finden. Haben sie recht oder nicht?
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