Die Zahl
Stanglmaier, Beowulf und die Moorungeheuer
Die Nachricht von Genz’ Verhaftung hatte in Windeseile die Runde gemacht, und die kollektive Erleichterung war in ganz Landau zu spüren. Die Menschen, die kurz vor der Bescherung noch unterwegs waren, lächelten und genossen die Vorfreude auf den Heiligen Abend. Am Mittag kam außerdem die Meldung herein, dass der Pass und sämtliche Zufahrtsstraßen wieder frei waren. Die Landidylle und der Weihnachtsfrieden waren wiederhergestellt.
Der Tag hatte nicht nur das alte Leben zurückgebracht, sondern auch neue Helden geboren.
Morell hatte eine Platzwunde über der Schläfe, die mit ein paar Stichen in dem kleinen Spital im Nachbarort genäht werden musste. Nachdem festgestellt wurde, dass er auch eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen hatte, wollte man ihn zur Sicherheit noch über Nacht dabehalten, doch das war mit Morell nicht zu machen.
»Schnell gesund werde ich nur in meinem eigenen Bett, und bei dem Fraß hier könnt ihr von Glück reden, wenn die Patienten nicht noch kranker werden«, hatte er gegrummelt.
Da er nicht verkehrstüchtig war, rief er Capelli an und bat sie, ihn abzuholen. Während er auf sie wartete, wollte er noch einmal kurz beim ›kleinen Robert‹, wie er ihn nun nannte, vorbeischauen und ihm zum hundertsten Mal erklären, wie stolz er auf ihn war. Auf dem Weg dorthin stieß er beinahe mit dem Bürgermeister zusammen, der schwungvoll um die Ecke bog.
»Ah, Morell, mein Lieber, zu Ihnen wollte ich gerade! Wie geht’s denn unserem Helden?«
»Was, äh, tja, geht schon.«
»Wunderbar! Ich habe ja die ganze Zeit gewusst, dass ich mich auf Sie verlassen kann, Morell. Also, das mit Sascha Genz ist wirklich bedauerlich. Umso mehr freue ich mich, dass die Engel wie von Zauberhand gereinigt wurden. Ich weiß nicht, wie Sie das gemacht haben, aber da haben Sie wahrlich ein kleines Weihnachtswunder vollbracht.« Der Bürgermeister lachte selbstgefällig und klopfte dem Chefinspektor auf die Schulter.
Morell war sprachlos. Da hatte er soeben den Serienmörder dingfest gemacht, der ganz Landau in Angst und Schrecken versetzt hatte, und dem Bürgermeister schien es weitaus wichtiger zu sein, dass dem mysteriösen Schmierfink das Handwerk gelegt worden war.
»Und Sie wollen mir wirklich nicht verraten, wer der Übeltätergewesen ist, Morell?«
Der Chefinspektor schüttelte den dick verbundenen Kopf.
»Mei, wie auch immer. Solange die Engel und der Rest der Dekoration sauber bleiben, können Sie von mir aus Ihre Weihnachtsamnestie durchziehen. Hauptsache, wir können den Heiligen Abend, die Feiertage und den Jahreswechsel in gewohnter Idylle verbringen. Sie wissen ja, das ist es, was die Touristen wollen. Und was gut für die Touristen ist, ist auch gut für uns Landauer, nicht wahr?« Er klopfte Morell noch einmal kräftig auf die Schulter. »So, ich muss weiter. Die Bescherung wartet.« Endres ging hinüber zum Lift, der soeben gekommen war. »Ein frohes Fest, mein
Lieber«, rief er, während sich die Lifttüren lautlos vor ihm schlossen.
Nachdem er bei Bender gewesen war, ging Morell noch auf die Intensivstation, wo Genz lag. Vor der Tür standen zwei Beamte Wache, die Haug schnell hatte einfliegen lassen. Er hatte außerdem weitere Beamte mitgeschickt, die sich um die laufende Arbeit kümmern sollten, während die beiden Landauer Polizisten im Krankenstand waren. »Gute Arbeit, Otto«, hatte Haug gemeint. »Ich habe dir ja gesagt, dass du das auch alleine schaffst! Ein guter Polizist bleibt ein guter Polizist. Die Fitness und die Routine können vergehen, aber der Instinkt bleibt!«
Benders Schuss hatte Genz’ Leber durchdrungen. Er hatte viel Blut verloren, würde es aber schaffen. Bis er wieder ansprechbar oder gar vernehmbar war, würden aber noch einige Tage, wenn nicht gar Wochen vergehen.
Der Chefinspektor spähte durch die Glasscheibe, hinter der sein ehemaliger Freund lag. Er sah friedlich und so gar nicht wie ein Mörder aus, fand Morell und rief sich dann in Erinnerung, dass man Mördern ihre grausige Passion so gut wie nie ansah, genau wie es Capelli gesagt hatte.
Morell war froh, dass alles vorbei war. Er konnte sich endlich ausruhen und sein altes Leben weiterführen, sich um die kleinen Bagatelldelikte und Streitereien seiner Landauer Mitbürger kümmern, sich seinem Haus und der Kocherei widmen und gemütliche Abende mit Fred und einem Glas Rotwein verbringen. Das war es, wovon er die letzte Zeit geträumt hatte.
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