Die Zahl
Trotzdem konnte er sich nicht wirklich freuen.
War es das wirklich wert gewesen? Er hatte einen Mörder gefangen, aber dadurch einen Freund verloren. Das Gefühl, das er beim Anblick von Genz empfand, konnte er schwer einordnen. Es lag irgendwo zwischen Überraschung, Ungläubigkeit und Trauer. Sie waren Freunde gewesen, und trotzdem war Sascha mit dem
Messer auf ihn losgegangen. Was, wenn der kleine Robert sich nicht so mutig dazwischengeworfen hätte? Hätte ihm Sascha dann wirklich etwas angetan? Er war schließlich kein Mörder. Doch, rief sich Morell ins Gedächtnis. Genau das war er! Sein Freund Sascha Genz war ein berechnender, kaltblütiger Killer. Es würde noch einige Zeit dauern, bis er sich an den Gedanken gewöhnen würde.
Etwas in seinem Kopf pochte, aber durch die Schmerzmittel tat es nicht wirklich weh. Es fühlte sich an, als würde ein kleiner Zwerg mit einem großen Hammer von innen gegen seine mit Watte ausgepolsterte Schädeldecke hämmern. Er rieb sich die Schläfen.
»Sie sehen blass aus. Alles in Ordnung, Herr Chefinspektor?«, fragte einer der Beamten, die vor Genz’ Zimmer Wache schoben.
Morell nickte. »Ja, es geht schon.«
»Soll ich einen Arzt holen oder ein Glas Wasser?«
»Nein, danke, es geht mir gut. Außerdem werde ich gleich abgeholt.«
Morell ging zum Lift, um hinunter in die Eingangshalle zu fahren. Während er auf den Aufzug wartete, dachte er weiter über den Vormittag nach. Irgendetwas kam ihm komisch vor. Irgendetwas stimmte nicht. Für seinen Geschmack gab es noch viel zu viele Ungereimtheiten. Was für eine Rolle spielten Linda Frank, Thomas Liebenknecht und Susanne Simonis? Und warum schickte Sascha die Briefe mit den Rätseln ausgerechnet an Leander? Er würde das klären, sobald der Zwerg aufhörte, gegen die Wattewand zu klopfen. Bestimmt gab es für jede offene Frage eine passende Lösung. Er würde diese Antworten finden. Aber sicher nicht hier, nicht jetzt und nicht in diesem Zustand.
»Da ist ja unser Held«, begrüßte ihn Capelli, die von Lorentz begleitet wurde.
»Na ja, der Held ist eher der kleine Robert.«
»Keine falsche Bescheidenheit. Robert hat die Sache in letzter
Sekunde rausgerissen, aber die ganze wichtige Vorarbeit hast ja wohl du geleistet.«
»Na, aber ohne eure Hilfe hätte ich es nicht geschafft.«
»Dann einigen wir uns doch darauf, dass wir alle Helden sind«, schlug Capelli vor.
»Abgemacht«, sagte Morell und strahlte zum ersten Mal seit langem übers ganze Gesicht.
»Horch! Zwölffach ruft vom Hof metallner Böller Knall.
Und geltendes Juchein dem fernen Widerhall.«
Johann Heinrich Voss, Junker Kord
Capelli hatte das Regiment in Morells Haus übernommen und kümmerte sich rührend um ihren Gastgeber samt Haustier. Der Chefinspektor versuchte wieder zu Kräften zu kommen, indem er viel schlief und noch mehr aß. Bereits am Samstagabend ging es ihm schon um einiges besser. Er saß im Wohnzimmer, streichelte Fred und schaute aus dem Fenster auf sein Glashaus. Nächstes Jahr würde er wieder mehr Zeit haben, sich um seine Blumen zu kümmern. Nächstes Jahr. Das neue Jahr stand ja direkt vor der Tür, und er nahm sich fest vor, den ganzen Papierkram noch vor Silvester zu erledigen, damit er diesen verdammten Fall noch im alten Jahr abschließen und frei und unbelastet ins neue starten konnte.
Wie gut, dass nun alles vorbei war. Er konnte zwar immer noch nicht fassen, wie sehr er sich in Sascha Genz getäuscht hatte, und es war ihm außerdem ein wenig peinlich, wenn er an die öffentliche Befragung von Dr.Levi dachte, aber das würde sich schon wieder legen. Levi, dieser nervige Cholesterinwert-Apostel, hatte den kleinen Angriff letzten Endes irgendwie verdient.
Morell schob sich einen Keks, den Capelli mit Hilfe einer Backmischung
gebacken hatte, in den Mund und versuchte, sich den Kopf unter dem Verband zu kratzen. Nina würde ihm fehlen. In den letzten Tagen war ihm die Gerichtsmedizinerin sehr ans Herz gewachsen, und auch Lorentz war zu so etwas wie einem Freund geworden. Wer hätte das gedacht?! Morell lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Wir werden Nina einfach hierbehalten«, sagte er zu Fred. »Sofern sie die Macht über die Küche und den Haushalt wieder an mich abtritt, kann sie bleiben, solange sie möchte. Wir haben ja genug Platz.« Der Kater schnurrte und schien mit dem Vorschlag einverstanden zu sein.
Das Einzige, was Morells Ruhe ein wenig störte, waren die beinahe stündlichen Besuche von Agnes
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