Die Zahl
Bender bereits da. Der Junge schien den Fall wirklich ernst zu nehmen und hart daran zu arbeiten. »Guten Morgen«, sagte er.
»Morgen, Chef!«
»Du bist heute aber schon früh da, Robert.« Der Chefinspektor
musterte seinen Assistenten. »Oder warst du erst gar nicht daheim?«
Tatsächlich sah Bender nicht sehr ausgeschlafen aus. Unter seinen geröteten Augen machten sich dunkle Schatten breit, und sein Hemd war so zerknittert wie der Hintern von Liz Taylor. Als Morell genauer hinsah, konnte er sogar den Abdruck einer Büroklammer auf Benders Wange erkennen.
»Ich bin noch einmal alle Protokolle durchgegangen und dabei wohl eingenickt. Das war wohl keine so gute Idee.« Der junge Inspektor streckte sich und rieb sich die Schultern. »Ich glaube, ich war noch nie in meinem Leben so verspannt.«
»Und?«, wollte Morell wissen, »hat sich die Nachtschicht wenigstens rentiert? Hast du etwas Wichtiges entdecken können?«
»Leider nein«, entgegnete Bender. »Die meisten Anrufer haben sich nur aus Neugier gemeldet. Der Großteil hat mehr Fragen gestellt als beantwortet.«
»Ja, das habe ich mir schon gedacht.« Morell starrte ratlos auf den riesigen Berg Papier, der innerhalb der letzten 24 Stunden auf dem Schreibtisch seines Assistenten in die Höhe geschossen war.
»Soweit ich das beurteilen kann, ist kein einziger Hinweis dabei, der uns irgendwie weiterbringen könnte«, verschlechterte Bender die Laune seines Vorgesetzten noch mehr.
Morell ging in sein Büro und fühlte wieder, wie Verzweiflung und Unlust in ihm hochstiegen. Nicht genug damit, dass er einen Mordfall an der Backe hatte – er hatte keinerlei brauchbare Hinweise, lediglich diese dubiose Zahl, die ihm keine Ruhe ließ. Dazu kamen ein unerwarteter Gast, eine aufdringliche Verehrerin und ein völlig übermüdeter Assistent. Er war wieder schwer versucht, sich krankzumelden und den Fall einfach abzugeben, und verfluchte sein Pflichtbewusstsein, das ihn davon abhielt.
Er musste jetzt endlich noch einmal mit der Witwe Iris Anders und Josefs Mutter sprechen. Nachdem er Iris am Sonntag die
schreckliche Nachricht überbracht hatte, war sie völlig zusammengebrochen, und es war praktisch nicht mehr möglich gewesen, ruhig und sachlich mit ihr zu reden. Nun aber war die Schonzeit für die Familie vorbei, fand er.
»Ich habe die Fotos vom Tatort entwickeln lassen – keine schönen Bilder, kann ich Ihnen sagen«, unterbrach Bender Morells Grübelei.
»Gut, zeig mal her.« Morell streckte die Hand aus, und Bender reichte seinem Vorgesetzten die Abzüge, der sie sich schweigend einen nach dem anderen ansah. Selbst hier auf sterilem Fotopapier war der Anblick immer noch erschreckend. Obwohl es in seinem Büro gemütlich warm war, fröstelte der Chefinspektor bei der Durchsicht. »Schrecklich«, murmelte er und schüttelte den Kopf. »Wer macht denn nur so etwas?«
»Chef?«, Bender blickte Morell an. »Dieses Zeichen auf seiner Stirn. Dieses X und die zwei Striche, was glauben Sie, was das zu bedeuten hat?«
»Keine Ahnung, Robert. Ich denke, dass es eine römische Zwölf sein könnte. Etwas anderes ist mir bisher noch nicht dazu eingefallen, und Dr.Capelli war der gleichen Meinung. Was meinst du? Irgendwelche Vorschläge?«
Bender setzte sich auf den Stuhl, der vor Morells Schreibtisch stand, und wirkte auf einmal wieder hellwach. »Ich dachte erst, dass es so eine Art Unterschrift des Mörders sein könnte. Xaver Ingo Igelmann oder so, aber leider konnte ich im Zentralregister niemanden mit diesen Initialen finden. Also habe ich als Nächstes eines der Fotos eingescannt und es an die Kriminalpolizei nach Wien geschickt. Ich habe die Jungs dort gebeten, es mit anderen Fällen zu vergleichen, nur um sicherzugehen, dass es sich nicht um einen Serienmörder handelt.«
»Ein Serienmörder?«, Morell runzelte die Stirn. »Das klingt, als hättest du zu viele amerikanische Psychothriller gesehen. Trotzdem kein schlechter Einfall«, fügte er schnell hinzu, als er das zerknautschte
Gesicht seines Inspektors sah. »Und, was haben die Kollegen in der Hauptstadt gemeint?«
»Die sahen so etwas leider auch zum ersten Mal ...«
»Ich würde eher sagen, dass sie so etwas
zum Glück
das erste Mal sahen«, fiel Morell seinem Assistenten ins Wort. Er dachte an den Anblick von Josefs schrecklich zugerichteter Leiche und schauderte. Es war an der Zeit, dass jemand ein Gerät erfand, mit dem man gezielt Erinnerungen löschen konnte. Eine Art Korrekturstift fürs
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