Die Zahlen Der Toten
sechzehnjährige Handlungspause lässt sich schwer erklären.«
»Es sei denn, der Kerl hat die Örtlichkeiten gewechselt.« Ich sage nichts, habe keine Lust auf Mutmaßungen. Skid fährt unbeirrt fort. »Oder er hat wegen was anderem gesessen und ist gerade wieder rausgekommen. Genau so was hab ich erlebt, als ich bei der Polizei anfing.«
Ich hasse solche Spekulationen und Fragen, weiß aber, dass ich in der nächsten Zeit noch mehr davon zu hören bekomme, und zucke mit der Schulter. »Könnte ein Nachahmungstäter sein.«
Er rümpft die laufende Nase. »Das wäre schon merkwürdig in einer kleinen Stadt wie dieser. Ich meine, Herr im Himmel, das ist doch mehr als unwahrscheinlich.«
Weil er recht hat, antworte ich nicht. Spekulieren ist gefährlich, wenn man mehr weiß, als man sollte. Ich schütte den restlichen Kaffee weg und knülle den Becher zusammen. »Sie behalten hier alles im Auge, bis Rupert zurück ist, ja?«
»Klar, mach ich.«
»Und helfen Sie ihm bei den Abdrücken. Ich fahre ins Revier.«
Auf dem Weg zum Wagen freue ich mich auf die Heizung. Mein Gesicht und meine Ohren schmerzen vor Kälte. Meine Finger sind taub. Aber beschäftigen tut mich etwas ganz anderes: Ich muss ständig an die junge Frau denken, an die unheimlichen Parallelen dieses Mordfalls zu denen vor sechzehn Jahren.
Als ich den Explorer anlasse und auf die Straße fahre, habe ich die düstere Vorahnung, dass der Mörder weitermachen wird.
· · ·
Das Zentrum von Painters Mill besteht im Wesentlichen aus einer großen Hauptstraße – sinnigerweise Main Street genannt –, die von etwa einem Dutzend Geschäften gesäumt wird. Ungefähr die Hälfte davon sind Touristenläden der Amischen, in denen es von Windspielen über Vogelhäuser bis zu kunstvollen handgemachten Quilts alles zu kaufen gibt. Im Norden mündet die Straße in einen Autokreisel, im Süden endet sie an einer evangelisch-lutherischen Kirche. Östlich der Main Street befinden sich eine neue Highschool, ein zunehmend beliebtes Siedlungsgebiet namens Maple Crest und ein paar Bed-&-Breakfast-Unterkünfte. Letztere tragen dem Tourismus Rechnung, der am schnellsten wachsenden Branche der Stadt. Im Westen, kurz hinter der Bahnstrecke und der Wohnwagen-Siedlung, liegen der Schlachthof und die Abdeckerei, ein Großmarkt für Farmbedarf und ein riesiger Getreidespeicher.
Painters Mill wurde 1815 gegründet und hat konstant um die fünftausenddreihundert Einwohner, ein Drittel davon Amische. Obwohl die Amischen meistens unter sich bleiben, gehören sie doch dazu, und so ziemlich jeder weiß über jeden Bescheid. Es ist ein angenehmer Ort, in dem man gut leben und Kinder großziehen kann. Und auch, um Polizeichefin zu sein – wenn man nicht gerade einen brutalen Mord aufzuklären hat.
Das Polizeirevier liegt eingepfercht zwischen Kidwell’s Pharmacy und der Freiwilligen Feuerwehr und ist eine zugige dunkle Höhle in einem hundert Jahre alten Backsteinbau, der früher ein Tanzlokal beherbergt hatte. Ich betrete den Eingangsbereich, wo Mona Kurtz am Schreibtisch mit der Telefonanlage sitzt. Sie sieht von ihrem Computer auf, schenkt mir ein strahlendes Lächeln und winkt. »Hallo, Chief.«
Mona ist etwas über zwanzig, hat rotes, üppiges Haar und eine Energie, die jeden Duracellhasen beschämt. Sie spricht so schnell, dass ich immer nur die Hälfte verstehe, was nicht unbedingt ein Nachteil ist, weil sie meist mehr erzählt als nötig. Doch ihr gefällt der Job, und da sie unverheiratet und kinderlos ist, macht es ihr nichts aus, die Nachtschicht zu übernehmen. Zudem hat sie echtes Interesse an der Polizeiarbeit, und obwohl es von der TV -Serie
CSI
herrührt, war das alles Grund genug, sie letztes Jahr einzustellen. Sie hat noch keinen Tag gefehlt.
Beim Anblick der vielen rosa Telefonzettel in ihrer Hand und dem Eifer in ihren Augen wünschte ich, es wäre schon Schichtwechsel gewesen. Ich mag Mona und weiß ihren Enthusiasmus zu schätzen, aber heute Morgen fehlt mir die nötige Geduld, so dass ich sofort auf mein Büro zusteuere.
Unbeeindruckt davon kommt Mona mit ihrem Dutzend Telefonzetteln in der Hand hinter mir her. »Das Telefon klingelt ununterbrochen, Chief. Die Leute sind verunsichert wegen des Mords. Mrs Finkbine will wissen, ob es derselbe Mörder ist wie vor sechzehn Jahren.«
Ich stöhne innerlich über die Rasanz der Gerüchteküche von Painters Mill. Könnte man diese Energie zur Erzeugung von Elektrizität nutzen, würde hier keiner mehr eine
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