Die Zarin der Nacht
lockeres Morgenkleid. Sie tupft Mandelcreme auf die Wan
gen ihrer Herrin. Reibt ihre Schläfen mit Verbenenöl ein, das einen leichten Zitrusduft verströmt. Wenn Anjetschka nicht weiter mit Fragen ermuntert wird, hört sie auf zu reden. Eine stillschweigende Vereinbarung, die sie vor Jahren getroffen haben und die so angenehm ist wie die lose fallenden Gewänder und die Ziegenlederpantoffeln. Sie kommt ihnen beiden gelegen.
»Ist Bolik wieder da?«
»Noch nicht.«
»Und wie nimmt Alexandrine es auf?«
»Das Lämmchen versucht, nicht zu weinen, Madame. Sie hatte gerade Zeichenunterricht.«
»Was malt sie denn?«
»Einen Birkenhain.«
»So gut, dass man ihn dem König zeigen kann?«
»Er ist noch nicht fertig.«
»Dann warten wir so lange.«
Anjetschka schlurft durchs Zimmer und sammelt die Utensilien ihrer nachmittäglichen Pflichten ein, die silberne Schale, in der das Eis fast geschmolzen ist, die Handtücher, die Cremetiegel.
»Sind Sie sicher, Madame, dass Sie zurechtkommen?« Eine Wiederholung der immer gleichen Frage, während sie nach dem Stock greift. Es fällt allerdings schwer, sich vorzustellen, wie Anjetschka helfen könnte, wenn ihre Herrin straucheln würde. Glücklicherweise trennt nur ein kurzer Flur das kaiserliche Schlafzimmer vom Arbeitsraum. Und ihr schlimmes Bein ist immer noch schmerzfrei.
»Ganz sicher.«
Die grauen Gänsekiele locken sie. Es würde ihr gefallen, ihrem alten Freund Grimm zu schreiben. Ihm zu berichten, dass sie plant, die restlichen rechteckigen Blumenbeete in Zarskoje Selo durch natürlich wirkende zu ersetzen, die sie so liebt. Aber Anjetschka reicht ihr schon die Liste mit den Besuchern, die
vorgelassen werden möchten. Mindestens zwanzig Namen, ein ganzer vergeudeter Nachmittag. Gott sei Dank steht Chambers' Name als Erster auf der Liste. Der Bericht des kaiserlichen Architekten über das chinesische Dorf, das er in Zarskoje Selo errichtet, ist längst überfällig.
Anjetschka hat ihren Posten für einen Moment verlassen, angelockt von einem klingelnden Geräusch im Vorzimmer, einem weiteren sich anbahnenden Palastdrama.
So ist es immer am Hof, diesem Reich der Egozentrik. Wahrgenommen zu werden ist Teil des Spiels, von daher ist alles immer sofort unerhört, ein Skandal, eine Beleidigung, eine Bosheit von kosmischen AusmaÃen. Ein Sesselreisender nach Russland behauptet, dass Grigori Orlow von seinen Brüdern erdrosselt wurde. Oder dass Fürst Potjomkin Saschenka Lanskoj aus Eifersucht vergiftet hat. Oder dass er selbst durch Aqua Tofana vergiftet wurde. Von Platon Subow vielleicht? Alles wird der Kaiserin zugetragen. Ihr zu FüÃen gelegt, als Beweis von Wachsamkeit oder Hellsichtigkeit. In Erwartung von Lob und Belohnung. Und immer, immer wird darauf geachtet, wie viel davon sie anderen geschenkt hat.
Wo sind die freien Geister geblieben, die Schwerelosen, Ungebundenen? Die Gesellschaft der Tapferen? Die mit dem kühneren Blick über die Grenzen dieser vergoldeten Räume hinaus?
Anjetschka kommt zurück, um zu melden, dass zwei kaiserliche Hofdamen vorgelassen werden möchten. Sie haben eine Bitte vorzutragen. »Wichtig, Majestät«, sagt Anjetschka, offensichtlich reich entlohnt für ihren Einsatz zu deren Gunsten.
Noch eine Geschichte von nicht erfüllten Wünschen, durchkreuzten Ambitionen, übersehenen Verdiensten? Von gewährter Gunst, die als zu gering angesehen wird, als Sackgasse im Hinblick auf höfische Aufstiegsmöglichkeiten?
»Lass Monsieur Chambers als Ersten eintreten«, sagt sie.
Anjetschka bedenkt sie mit einem verletzten Blick. Ihre treue
Freundin, fett und nach der kleinsten Anstrengung auÃer Atem. Wie ging noch das Liedchen, mit dem Platon ankam?
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Ihr Bauch geht einen Schritt voraus,
Verlässt die dicke Magd das Haus.
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»Majestät.« Chambers verbeugt sich und küsst ihr die Hand. »Hier kommt das Versprochene.«
Er ist ein groÃer, wohlgestalteter Mann, ihr Architekt. Liebt schöne Kleider. Juwelenbesetzte Schnallen auf seinen Schuhen, Spitzenrüschen, weiÃe Seidenstrümpfe. Er mag den Glanz des Goldes und auch die feine Glätte von Samt. Doch heute hat er sich in Eile angekleidet; sie entdeckt ein offenes Knopfloch, weiÃe Puderreste auf seinen Schultern.
Die Zeichnungen, die er ihr vorlegt, sind sehr schön auf Pergamentpapier
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