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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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zu ihr«, sagt sie. »Lass jede etwas Neues für sich aussuchen.«
    Â 
    Für heute hat sie sich Lukrez als Lektüre vorgenommen: Leben erzeugende Atome, denen bei ihrer unablässigen Bewegung durch die Tiefe des Raums keine Ruhe gegönnt ist. Einige prallen aufeinander, um dann weit auseinanderzufliegen, andere ziehen sich zusammen. Je nach Vorgabe der eigenen Gestalt bilden sie entweder einen Felsen oder einen Eisenklotz.
    Macht zieht ihr Gegenteil an. Was nicht mittels Gewalt reduziert werden kann, wird nach und nach zerkleinert.
    Â»Atome im Vakuum?«, hätte Grischenka gestöhnt. »Warum nimmst du dir nicht lieber Plato vor, Katinka? Und liest von einem herrlichen jungen Körper, der unseren Verstand auf die Schönheit der Perfektion lenkt.«
    Doch sie kann ihr stilles Grübeln und ihr Alleinsein nicht allzu lange genießen.
    Â»Majestät«, flüstert Wischka und zeigt dabei ihre schwarzen Zähne, die so reichlich in ihrem Mund vorhanden sind wie Bettler an Ostern. Ihre Haare sind in den letzten Monaten grau und dünn geworden. Die schlaffe Haut unter ihren Augen verleiht ihr ein leicht verwirrtes Aussehen. Ihre zweite Zofe wirkt beunruhigt, doch ihr entschlossener Blick signalisiert, dass die Angelegenheit, zumindest in Wischkas Augen, ziemlich wichtig ist. Während Anjetschka sich ausdehnt, immer mehr Raum einnimmt, schrumpft Wischka.
    Wenn Wischka gekommen ist, scheint es an der Zeit zu sein, über den bevorstehenden Umzug in den Taurischen Palast zu sprechen. Seinen Palast nennt sie ihn im Geiste noch immer. Fürst Potjomkins. Grischenkas. Sie hatte den Palast für ihn gekauft, ihm dann wieder abgekauft – damit er seine Schulden
bezahlen konnte – und ihm erneut geschenkt. Jetzt gehört er wieder ihr, ihre bevorzugte Sommerresidenz in Sankt Petersburg, ein Ort, wo keine Salutschüsse ihr Kommen und Gehen verkünden. Wo keine Bittsteller zugelassen sind und sie kein leeres Hofgeschwätz ertragen muss.
    Wischka hat eine ganze Liste mit Dingen, die sie zu entscheiden hat. Großfürst Alexander bittet um Erlaubnis, Prinz Adam einzuladen, und wenn sie einverstanden sei, würde er seinen Freund gern in der Blauen Suite unterbringen. Alexandrine möchte für die Nacht in den Winterpalast zurückkehren, für den Fall, dass Bolik wieder auftaucht. Der Haushofmeister des Taurischen Palasts lässt mitteilen, dass alles für den Empfang ihrer kaiserlichen Majestät vorbereitet ist, bittet aber darum, einen Dompteur einstellen zu dürfen. Die Kängurus, ein großzügiges Geschenk des Königs von England, sind eine kleine Sensation. Es wurde schon eine spezielle Aussichtsplattform neben den Käfigen errichtet, aber das Vergnügen an diesen großartigen Tieren ließe sich noch steigern, wenn ein Dompteur eine intelligente Schau entwickeln würde, in der sie ihre Fertigkeiten im Boxen vorführen könnten.
    Â»Und da ist noch etwas, das Majestät vielleicht wissen sollte«, sagt Wischka, als alles andere erledigt ist. (Prinz Adam darf kommen, Alexandrine kann nicht dauernd zwischen zwei Palästen pendeln, und die Taurischen Gärten werden nicht in einen Zirkus verwandelt!) Anders als Anjetschka, die sich für eine Expertin der Liebe und der subtilen Gefühle hält, ist Wischka mit Vorliebe die Überbringerin kleinerer Sünden: Ein Kammerdiener hat ihr Bänder gestohlen, um Teehäuser oder Schnapskaschemmen aufzusuchen, eine Zofe hüllt sich ins kaiserliche Umschlagtuch, wenn sie sich allein glaubt.
    Â»Geht es um Alexandrine?«, fragt sie.
    Â»Nein, Madame.« Wischka zögert. Als wüsste sie nach vierzig Jahren in ihrem Dienst noch immer nicht, dass sie sich auf das Wohlwollen ihrer Herrin verlassen kann.
    Man muss Geduld haben mit alten Dienstboten. Ihnen langsam die Wahrheit entlocken, ohne ihnen die Worte in den Mund zu legen. Der Moment, bevor das, was wirklich hörenswert ist, sich in das verwandelt, was man ihrer Meinung nach gerne hören möchte, ist so kurz. Gesten funktionieren da besser als Worte. Ein Händedruck, ein leichtes Berühren ihrer Wange, gefolgt von einem Blick in ihre Augen, das Versprechen von Zuwendung.
    Doch diesmal gilt Wischkas Aufregung dem Großfürsten Konstantin, der erst in diesem Februar mit viel Pomp und unter großen Kosten geheiratet hat. Wischka war am Marmorpalast vorbeigekommen, wo das junge Paar wohnt. Die Fenster

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